Kultusministerin Nicola Beer im Gespräch mit Lehrern des
CJD Oberurff. Ob sie, wenn sie nach der Wahl im
September 2013 im Amt bleiben sollte, Schülern wie Jonas
ihre Chance zum „Sitzenbleiben“ zugesteht?
(*)

Jonas1 guckt fassungslos. „Ja dann hätte ich keine Chance gehabt!“ ist seine knappe Antwort, als man ihm erzählt, dass die Hessen-SPD und sehr wahrscheinlich auch die landregierenden CDU und FDP dem „Sitzenbleiben“ an den Kragen wollen. Das pädagogische Instrument der Wiederholung eines Schuljahres muss nun auch in Hessen als Wahlkampfthema herhalten. SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel hat öffentlich mitgeteilt, dass er und seine Genossen NICHT glauben, „Sitzenbleiben“ wäre der Sinn von Schule. Gibt es etwa in Hessen Schulen, die programmatisch das Sitzenbleiben anstreben?

Alles auf Anfang – Hoffnung und Chance

Das wäre so widersinnig, als ob tägliches Kakaotrinken in den Pausen das erklärte pädagogische Ziel einer Schule ist. Beides wäre nicht hinnehmbar. Man könnte dann nur unterschreiben, wenn es heißen würde: Wir glauben nicht, dass Kakaotrinken der Sinn von Schule ist. Doch zum Glück – keine einzige Schule hat Sitzenbleiben (und Kakaotrinken) zum Ziel. Was also soll dann die vermeintliche Sorge um „arme“ Sitzenbleiber?

Wer sich auch nur ein wenig mit dem Schulalltag auskennt, weiß, dass die Wiederholung eines Schuljahres die letzte Option einer langen Kette von pädagogischen Maßnahmen ist und für den Schüler eine Chance darstellt. Tausend Gründe können einen Jugendlichen in eine Situation bringen, in der Schule für ihn scheinbar nicht zu bewältigen ist. Wenn dann alle Betreuungs- und Fördermaßnahmen nichts gebracht haben, ist die Wiederholung des Schuljahres ein pragmatischer Versuch, zurück in eine harmonische Schullaufbahn zu gelangen. Wer öffentlich mit Sinnsprüchen wie diesen zu punkten versucht „ein Kind zu fördern, bevor es überhaupt sitzenbleiben kann, ist ein weitaus größerer Leistungsanreiz2“ ,vermittelt bewusst oder unbewusst einen falschen Eindruck von der pädagogischen Arbeit an den Schulen.

Joachim ist kein armer Sitzenbleiber. Obwohl es in der achten Klasse nicht rosig aussah, nicht nur mit der Mathematiknote. Alles auf Anfang – war die Hoffnung und Chance am Ende des Schuljahres. Heute, drei Jahre später, ist aus dem pubertierenden Jungen von damals ein selbstbewusster junger Mann geworden. Er ist in der 10. Klasse des Gymnasiums. Mathematik­ar­beiten legt er mit einem Einser hin. Nach der Schule gibt er Klassen­kame­raden Nachhilfe. Wäre Joachim damals in die neunte Klasse geschoben worden, trotz Fünfer und Vierer in Hauptfächern, wie es die „Bildungsex­perten“ aus der Politik zukünftig gern hätten, damit man sie für sozial und volksnah hält, wäre vermutlich alles anders gekommen. Kein hoffnungs­voller Neuanfang, sondern demotivierendes mühseliges Weiterschleppen, wahrscheinlich mit Noten am Abgrund.

Kinder gehen immer – in der Werbung und in der Politik – um öffentlich eigene Interessen zu befördern. Also muss regelmäßig das Bildungssystem herhalten, wenn sich Politiker aller Lager etwa in einem anstehenden Wahlkampf bemühen, in einem möglichst guten Licht dazustehen. Ob sich die Reagierungskoalition aus CDU und FDP selbstbewusst „trauen“ wird, sich FÜR Schüler wie Joachim einzusetzen, dass ihre Chance zum „Sitzenbleiben“ erhalten bleibt? Das Kultusministerium arbeite an ähnlichen Plänen wie die SPD, heißt es.

Linksunten (hr-Online)

SPD will Sitzenbleiben abschaffen

(*) Text/Bild: Andreas Bubrowski