Ein Nachmittag mit den Leuten vom MT Melsungen
Von Jakob Kneisler
Sonntag, 1. Dezember 2013 – Einige Schüler des Internats besuchten im Rahmen der Kultur-AG das Handballbundesligaspiel der MT Melsungen gegen die Rhein-Neckar Löwen. Dafür stellte die MT Melsungen die Karten kostenfrei zur Verfügung. Von der zweiten Reihe aus traute sich zwar keiner der sechs mitgereisten Jungs die vor ihnen sitzenden Ersatzspieler anzusprechen, doch das war auch keineswegs notwendig, denn das Spiel bot alles, was ein Live-Spiel bieten soll: Emotionen, beinharte Verteidigung, Positionskämpfe, fabelhafte Tore, bombastische Stimmung, aufrechtstehende Verlierer und einen verdienten Gewinner.
Zum Schluss dann aber auch erstaunlicherweise die Frage, woher die „Rewe-Spieler“ eigentlich stammen, gemeint war die Leute vom MT Melsungen, deren Spieler das Logo ihres Trikotsponsor REWE auf der Brust trägt.
Integration der Internatsschüler
in die kulturelle Landschaft Hessens
Doch von vorn: Seit Beginn des Schuljahres 2013/14 strebt das CJD Oberurff verstärkt die Integration der Internatsschüler in die kulturelle Landschaft Hessens ein. Die Tiefe der Integration hängt für diese Kinder auch von dem Gefühl von Beheimatung ab, Beheimatung ist aber in erster Linie emotionale Landnahme. Da die meisten Internatsschüler nicht im Schwalm-Eder-Kreis beheimatet sind, ist das Terrain unbesetztes Gebiet. Weder weiß man, wo sich Dinge befinden, noch auf welche Art und Weise Zugang zu Land und Leuten gefunden werden kann; hessisch spricht nicht jeder und die Ahle-Wurscht eignet sich auch nicht als Integrationsmedium. chließlich bleibt einem die Umgebung verschlossen und undurchdringlich. Die Folge kann eine sich stetig ausbreitende Distanziertheit und Einsamkeit sein. Das Umfeld bleibt wild.
Unsere Kulturarbeit will helfen, Orientierung zu ermöglichen – im geographischen als auch im kulturellen Raum. Doch versteht sich dieser fiktive Raum für einen Jugendlichen anscheinend noch viel zu häufig abstrakt bzw. nicht dem eigenen Leben anbei gestellt. Wichtiger ist, was emotional begangen wird. Das Wühlen und das Suhlen in Emotionalität ist doch dabei stets der Ausdruck nach persönlichem Ringen um die eigene Gestaltwerdung; welche Rollenmodelle habe ich, welches Verhalten widert mich an, wovon träume ich, was ist gerecht. Wie zu sehen, ist eine Personalisierung ohne Emotionalität nicht möglich, der Jugendliche gewinnt, indem er emotional vereinnahmt. Begrifflichkeit: pulsierende emotionale Instabilität! Unser dritter Ausflug führte uns zum oben besagten Handballspiel der MT innerhalb der vielleicht besten Liga der Welt im Bereich Handball, schließlich haben wir drei der letzten vier Champions-League-Finale gewonnen. Sieben Männer trafen auf einen „Männersport“. Im Dankesschreiben an die MT drückte ich meinen Dank wie folgt aus:
„Danken will ich den Spielern, die mit einer Leidenschaft und Emotionalität an das Spiel herangingen, so dass eine Distanziertheit zum Geschehen nicht möglich war; sie vermittelten einen Willen, der von unbändiger Kraft zeugte; sie vereinten einen Kraftakt mit Leidensbereitschaft, der den Zuschauer den Kampf und den Schmerz spüren ließ, und ihn dennoch ignorieren lernte, da das angestrebte Ziel nicht aus den Augen verloren wurde; zudem zelebrierten sie Teamorganisation mit allen seinen Facetten von Unterordnung, Fehlerbereinigung, Motivation und Integration“
Sieben Männer sind mit sieben Tugenden konfrontiert. Diese Tatsache ist noch nicht besonders erwähnenswert, geschieht dies doch täglich, gerade im Spitzensport. Relevanz erhält diese Konfrontation erst durch folgende Hinzufügung: die 5.000 anwesenden Zuschauer, die einem den Hintern erbeben lassen mit ihren Gesängen und Schlägen, fordern eine Überprüfung bestehender Auffassungen. 5.000 scheinen diesen Tugenden verfallen zu sein, denn werden diese eingehalten, wird eben jenes mit emotionaler Teilhabe bestätigt, bleiben sie aus, folgen unweigerlich nach einer Phase der Geduld die Unmutsbekundungen; und so mag es passieren, dass derselbe Spieler in einem einzigen Spiel vom Helden zum Söldner verkommt.
Würden wir die Tugenden jeweils einzeln näher beleuchten, kämen wir irgendwann zu dem Ergebnis – welches ich an dieser Stelle schlicht vorwegnehme – das sie einem bestimmten Männlichkeitsideal entstammen. Niemand käme erstmals auf die Idee die einzelnen Tugenden als negativ und lebensfeindlich zu deklarieren, und dennoch bleibt ein bittersüßer Beigeschmack zurück. Trotz aller Bemühungen vermag der Nachhall von ‚Disziplin‘ nicht zu schwinden! Erneut begegnet uns dieses Schulwort, Arbeitsplatzwort, Freizeitwort, Autofahrt „Ich muss mal Pipi“-Wort – in welcher Domäne des Lebens sind wir nicht mit diesem Wort konfrontiert worden. So erschreckt uns auch nicht, wenn Lea Fleischmann uns Deutschen in den 80-ern eine „Reiß-dich-zusammen-“ und „Stell-dich-nicht-so-an-Mentalität“ anhängte1. Doch wollen wir an dieser Stelle keine pädagogische Diskussion eröffnen und belassen es bei der Notiz. Wir wollen einzig lobend erwähnen, dass die Spieler der MT nach ihrer bitteren 27:30 Niederlage vorbildlich umgingen und durch ihr anschließendes Zur-Verfügung-Stehen bezeugten, das Niederlagen dazugehören, und wie man mit ihnen umgehen kann.
So entstand der Reiz des Nachmittages nicht daran, dass der Wettkampf einen Sieger und einen Besiegten brauchte, sondern in der innerlich geführten Auseinandersetzung um die Strahlkraft des Gesehenen, und noch wichtiger: des Gefühlten.
(Gestaltung: Andreas Bubrowski)
- Vgl. Fleischmann, Lea: Dies ist nicht mein Land. Hoffmann und Campe, 1980. ↩
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