Warum hält ein Schäfer eine Schafherde? Weil er mit den Tieren Geld verdienen will, zum Beispiel mit Schafwolle, Schafmilch, vor allem aber mit Schaffleisch. Eine Schafherde in der Landschaft hat etwas Idyllisches und Friedliches an sich. Doch der Eindruck täuscht, denn in wenigen Monaten wird vermutlich die ganze Herde als Hammelbraten enden, was den Schafen Gott sei Dank erst kurz vor ihrem Ende mehr oder weniger bewusst wird.

Gruschel-mich-Werbung des Holtzbrinck-Konzerns bei SchülerVZ. (*)

Herdendasein ist also für den Herdenbesitzer von Vorteil. Für die Herdenmitglieder am Ende eher nicht. Unter Menschen nennt man Herdendasein neuerdings „soziales Netzwerk.“ Zum Beispiel SchülerVZ. Doch das „Netzwerk“ ist so wenig „sozial“ wie eine Schafherde idyllisch ist; in dem Fall zum Nachteil der Schüler.

Neulich hatten die Schüler einer siebten Klasse bis auf eine Ausnahme zur ersten Stunde ein rotes Armband angelegt. Natürlich fragte der Lehrer nach, was das zu bedeuten habe. Es stellte sich heraus, dass das Armband eine Art SchülerVZ-Outing war. Offenbar hatten die Macher dieses werbefinanzierten Internetportals – was das „soziale Netzwerk“ in Wirklichkeit ist – ihren Mitgliedern suggeriert, sie sollten doch öffentlich ZEIGEN, dass sie dort Mitglied sind. Auf Anfrage konnten sich die Schüler das Band schicken lassen. Und wie es sich die Marketing-Manager des Holtzbrinck-Medienkonzerns – der das Portal betreibt – ausgedacht hatten, reagierten die Schüler auch prompt. Zumindest jene dieser Klasse.

Mobbing und pornographische Bilder

Was soll an einem Bändchen so schlimm sein? Ist es nicht cool, wenn man Gleichaltrigen signalisiert, über das Portal erreichbar zu sein? Ein Schüler meinte: Wir sind halt so, das müssen Sie verstehen! Doch genau das ist das Problem. Es sind eben NICHT die Schüler SO. Vielmehr erliegen sie den Suggestionen einer knallhart auf Profit ausgerichteten Maschinerie – von ERWACHSENEN erfunden und betrieben. Die VZ-Community, das Bändchen und das VZ-Outing sind natürlich harmlos. Nicht harmlos ist, dass die wirklichen Motive dahinter unerkannt bleiben.

Eine Herde von etwa 800 deutschen Merino-Schafen auf einer nordhessischen Weide. (*)

Von ihren etwa 3,4 Millionen Mitgliedern erhalten die Betreiber von SchülerVZ nach eigenen Angaben pro Tag (!) rund 3.000 Mails, in denen die Absender sich über Inhalte beschweren, zum Beispiel Mobbing und pornographische Bilder. Dazu der Betreiber:

Bei der Hälfte der Klagen ziehen die Betreiber der Plattform Konsequenzen: „Wenn in Gruppen einzelne Schüler gemobbt werden, löschen wir das sofort,“ sagt Philippe Gröschel, der Jugendschutzbeauftragte bei SchülerVZ. Gibt es einen Verdacht auf kriminelle Handlungen, schalten die Verantwortlichen die Behörden ein. (Süddeutsche Zeitung, 29.08.2008)

Wenn jede einzelne der relevanten 1.500 Klagen nur fünf Minuten Zeit beanspruchen würde, müssten demnach 16 Mitarbeiter täglich acht Stunden nur damit beschäftigt sein, kriminelle Inhalte zu löschen. Wenn es so ist, wäre es beeindruckend. Doch es kommen Zweifel auf, ob der Betreiber tatsächlich einen solch kostenintensiven Personalaufwand betreibt, wie er versichert. Gerade hat der Geschäftsführer von StudiVZ und SchülerVZ, Marcus Riecke, seinen Hut genommen. Zurückgehende Klickzahlen und ein bislang wenig profitables Geschäftsmodell beunruhigen die Betreiber, die das Portal StudiVZ einst für geschätzte 85 Millionen Euro gekauft haben. Das investierte Geld muss sich endlich auszahlen. Die Erfindung von SchülerVZ sollte aus der Patsche helfen und neue Umsätze bringen. Doch wieso eigentlich? Wie kann man an Teenagern, die sich kostenlos registrieren lassen, Geld verdienen?

Der eigentliche Zweck: Zielgenaue Werbung

Klickverhalten liegt offen (*)

Dem Besitzer einer Schafherde geht es um die gewerbliche Nutzung von zum Beispiel frischem Schaffleisch. Dem Betreiber eines gewinnorientierten Online-Netzwerkes geht es um FRISCHE PERSONENDATEN. Pro aktueller Adresse wird am Werbemarkt 1,50 Euro und mehr bezahlt. Eine Millionen aktueller Teenager-Adressen könnten also theoretisch 1,5 Millionen Euro wert sein. Darüber hinaus liegt dem Portalbetreiber das gesamte Klickverhalten des einzelnen Mitgliedes offen. Alle Vorlieben, Abneigungen, alle benutzten Links, Mails, Bilder, Videos – ALLES kann mit verfolgt, ausgewertet, zu einem individuellen Profil verdichtet und Werbung dadurch profilbezogen eingeblendet werden. Wenn etwa Schüler intensiv zu einem Online-Spiel chatten, kann das jeweilige Profil so angepasst werden, dass Werbung des Spiele-Herstellers genau bei ihnen eingeblendet wird, und nicht zum Beispiel bei Mädchen, die sich für Kosmetik interessieren. Solche zielgenaue Werbung ist der eigentliche Zweck von „sozialen Netzwerken“ mit dem VZ-Anhängsel. Und sonst nichts.

Kripo liest mit

SchülerVZ wirbt bei den Kids damit, dass Eltern ausgeschlossen sind. Es mutet ein wenig wie eine moderne Ausgabe des Rattenfängers zu Hameln an, dass Erziehungsberechtigte bei SchülerVZ ausgeschlossen werden, zahlende Werbeinteressenten jedoch mehr oder weniger freien Zugang zu persönlichen und intimen Daten bekommen. Zunehmend werden Online-Portale auch für die Polizei interessant. Während bisher Profiler der Kripo nur unter strengen gesetzlichen Auflagen und in engen Grenzen Daten mühsam sammeln und auswerten mussten, steht ihnen mit den Online-Netzwerken ein geradezu unerschöpflicher Datenpool zur Verfügung. Kleiner Unterschied: Der Profiler muss jetzt nicht mehr Merkmale eines möglichen Straftäters aufwendig recherchieren, er kann direkt auf die Selbstentblößung von Millionen Mitgliedern zugreifen und per Datenbankabfrage kreuz und quer auswerten.

Schafe tragen im Ohr eine Marke, damit erkennbar ist, dass sie zu einer bestimmten Herde gehören. (*)

Wenn es bei SchülerVZ und Co. gerade nicht so gut zu laufen scheint, könnten es die Betreiber neben den bekannten Mein-, Dein- und UnserVZ vielleicht mit der stetig wachsenden Gemeinschaft der über 60-jährigen (ü60VZ) oder den Lehrern (LehrerVZ), Hartz-IV-Empfängern (Hartz4VZ) und nicht zu vergessen der Gemeinschaft der Auszubildenden und Kindergartenkinder (AzubiVZ und KigaVZ) probieren.

Hoffnung macht im Übrigen, dass sich die Schüler jener siebenten Klasse nur noch vereinzelt mit rotem Bändchen zeigen – auch wenn der nörgelnde Lehrer NICHT in Reichweite ist. Die Erklärung von Zusammenhängen und Risiken hat die Coolness nachhaltig schrumpfen lassen. Schließlich sind unsere SchülerInnen eben KEINE Schafe.

Zum Weiterlesen: Süddeutsche Zeitung: Entblößung 2.0

(*) Text/Bild: Andreas Bubrowski