Buchautor Arne Ulbricht im Interview mit CJD-UPDATE

Arne Ulbricht, Buchautor, Lehrer und Interview-Partner von CJD-UPDATE
Arne Ulbricht, Buchautor, Lehrer und Interview-Partner von CJD-UPDATE.
Foto: talent! 2014® Lesung vor jungen Journalisten in Berlin am 27.9.2014

Digitale Werkzeuge sind seit Jahren selbstverständlicher Bestandteil der curricularen Didaktik an unserer Schule. Dennoch kann bis heute dem Bedarf der Fachbereiche an digitalen Unter­richts­mitteln oft nur mit Mühe entsprochen werden. Doch plötzlich ist mancherorts im Gespräch, vom sachbezogenen Einsatz digitaler Mittel im Unterricht gleich ganz auf digitalisierten Unterricht umzustellen. Buchautor und Lehrer Arne Ulbricht warnt im Interview mit CJD-UPDATE davor, dabei zu vergessen, dass es auch noch eine Welt außerhalb des digitalen Universums gibt, für das Lehrer ihre Schüler fit zu machen haben.

Interview mit Arne Ulbricht

Arne Ulbricht, 42, ist Lehrer und Autor. Er unterrichtet an einem Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen. Sein Buch Lehrer: Traumberuf oder Horrorjob sorgt noch immer für Aufsehen. Sein neues Buch „Schule ohne Lehrer“, in dem sich Arne Ulbricht unter anderem mit der Digitalisierung auseinander setzt, erscheint am 21. Januar 2015 im Vandenhoeck&Ruprecht-Verlag. Mehr von und über Arne Ulbricht auf seiner Homepage www.arneulbricht.de

CJD-UPDATE: Warum hinterfragt niemand, wenn Bücher, Hefte und Tafeln durch elektronische Endgeräte mit Touchscreen ersetzt werden, fragen Sie in Ihrem Artikel IM DIGITALEN KLASSENZIMMER1. Liegt es vielleicht daran, dass wir Lehrer generell verlernt haben zu hinterfragen, etwa des lieben Friedens wegen oder schlicht aus Bequemlichkeit?
Arne Ulbricht: Nein, damit hat das nichts zu tun. Das Problem an der Digitaliserung ist ganz allgemein, dass sie kaum jemand hinterfragt. Ein zentrales Problem an vielen Schulen ist inzwischen der wachsende Handykonsum, der bereits in der fünften Klasse anfängt. Hier beginnt ein Teufelskreislauf. Die Eltern, die nichts hinterfragen, geben ihren Kindern die Handys mit in die Schule, an der Schule selbst sind die Handys auf dem Schulgelände in der Regel nicht verboten, und die Lehrer benutzen immer häufiger ihre eigenen Handys oder Tablets, um ihren Unterricht zu organisieren. Irgendwann wird der digitalisierte Schüler in die digitalisierte Schule kommen und dort auf den digitalisierten Lehrer treffen. Das, was wir momentan in der ganzen Gesellschaft erleben, ist der Anfang einer Komplettdigitalisierung. Lehrer, Schüler und Eltern sind Teil der Gesellschaft und machen einfach mit.

Digitale Werkzeuge können den Unterricht ergänzen, ihn aber nicht ersetzen
Digitale Werkzeuge können den Unterricht ergänzen, ihn aber nicht ersetzen. Bild: A. Bubrowski/CJD Oberurff

Ein Hauptargument für die radikale Digitalisierung der Klassenzimmer lautet: Die Schüler wären mit Tablets besser motiviert. Ist der Griff zum Digitalen womöglich der bewusste oder unbewusste Versuch, Defizite der eigenen pädagogischen Kompetenz zu verdecken?
Das glaube ich nicht. Lehrer freuen sich über motivierte Schüler. Und natürlich ist es erst mal schön, wenn Schüler begeisterter lernen. Und natürlich sind digitale Geräte motivierend. Das sind sie aber nicht mehr, sobald sie nicht mehr als neu wahrgenommen werden. Der Effekt wird auch deshalb schnell verpuffen, weil die Schüler ohnehin bis über beide Ohren digitalisiert sind. Das Problem am Motivationsargument sehe ich eher darin, dass an einer allgemeinbildenden Schule Motivation manchmal ein schlechtes Argument ist. Schüler sind nie motiviert, wenn sie mit Goethe beginnen. Wir sollten den Schülern dennoch nicht Fuck ju Göte zeigen, statt Goethe zu lesen.

„Schüler sollen lernen,
mehrere Stunden am Tag ohne Facebook, WhatsApp, YouTube und Google zu leben.“

An unserer Schule gibt es während der Kern-Unterrichtszeit ein „Handy-Verbot“, an das sich die Schüler im Großen und Ganzen halten. Kaum aber setzen sich nach Unterrichtsschluss die Massen in Richtung Schulbusse in Bewegung, laufen viele Schüler reflexartig mit gesenktem Kopf und vorgehaltenem Smartphone zur Haltestelle. Der prüfende Blick aufs Smartphone ist die erste und letzte Aktion eines jeden Schülers an einem Tag. Wenn das alles nun schon so ist, warum dann nicht gleich auch den Unterricht auf „Monitorbetrieb“ umschalten?
Eben deshalb! Schüler sollen lernen, dass es eine Welt außerhalb ihres digitalen Universums gibt. Sie sollen lernen, mehrere Stunden am Tag ohne Facebook, WhatsApp, YouTube und Google zu leben. Sie sollen die Kompetenz, längere Texte konzentriert zu lesen, nicht verlieren. Sie sollen lernen, wie­der exakter zu schreiben – der Hang zum Schreiben von Kurznachrichten hat die Rechtschreibung vieler Schüler leider versaut. Und die Schüler sollen nicht verlernen, miteinander zu reden. Sie sollen auch in zehn Jahren noch akzeptieren, dass die Sonne scheinen kann, obwohl die WetterApp Regen angekündigt hat. Sie sollen weiterhin gewisse Dinge einfach wissen, ohne sie erst ergoogeln zu müssen. Ich befürchte, dass durch die Digitalisierung mehr Kompetenzen verloren gehen als hinzugewonnen werden.

„Dennoch spricht ein einleuchtendes Argument dafür,
dass man weiterhin vor allem mit Lehrern aus Fleisch und Blut,
nicht mit iPads aus Glas und Aluminium lernt: Lehrer sind Menschen!“

Ein weiteres Argument für digitalisierten Unterricht lautet: bessere Möglichkeiten zum individualisierten Lernen in der Schule. Wenn also elektronische Endgeräte und eine paar standardisierte App(lication)s bessere Lerneffekte ermöglichen als der herkömmliche Unterricht, wäre dann dem einzelnen Schüler damit nicht mehr gedient, als wenn man weiterhin auf das sture Lernen im Klassenverband beharrt?
Das Argument wird meistens durch den Satz ergänzt, dass viele Apps ja besser seien als die vergeblichen Erklärungsversuche durchschnittlicher Lehrer. Nun, ich halte mich in vielen Belangen ebenfalls nur für einen durchschnittlichen Lehrer. Dennoch spricht ein meiner Meinung nach einleuchtendes Argument dafür, dass man weiterhin vor allem mit Lehrern aus Fleisch und Blut und nicht mit iPads aus Glas und Aluminium lernt: Lehrer sind Menschen! Und Lehrer sind heutzutage auch Sozialarbeiter und Ansprechpartner in verschiedenen Lebenslagen. Und: Lehrer kann man fragen. Immer wieder. Abgesehen davon kann man individualsiert lernen, wenn man als Hausaufgabe zu Extrathemen recherchiert. Sollte immer häufiger mit Apps gelernt werden, dann wird das Kürzel SOL, das für „selbstorganisiertes Lernen“ steht, in zehn Jahren für „Schule ohne Lehrer“ verwendet werden. Denn Lehrer wird man irgendwann nicht mehr brauchen.

„Dass Schulen einen Beitrag dazu leisten,
dass Apple direkten Einfluss auf die Bildungspolitik in Deutschland nimmt,
ist eigentlich peinlich.“

Lehrer werden zunehmend von Konzernen wie Apple als „Mulitplikatoren“ für die eigenen System- und Dienstleistungsangebote geködert. Teilweise werden dabei von den Konzernen sogar die Kosten für die Teilnahme an als Weiterbildung deklarierte Werbeveranstaltungen übernommen. Wie können Lehrer, Schulleitung und Elternschaft dem Druck der Konzerne widerstehen, ohne sich argumentativ zwischen den Extremen Digitalisierung und Entdigitalisierung aufzureiben?
Indem man einen Kompromiss eingeht: Man könnte eine gewisse Anzahl an mobilen Geräten für digitale Unterrichtseinheiten anschaffen. Ob die nun von Apple, Samsung oder anderen Herstellern sind, müsste im Einzelfall entschieden werden. Weiterbildungen, die von den Unternehmen selbst durchgeführt werden, sollten nur besucht werden, wenn sie nicht an einen Verkauf gekoppelt sind. Dass Schulen einen Beitrag dazu leisten, dass Apple direkten Einfluss auf die Bildungspolitik in Deutschland nimmt, ist eigentlich peinlich. Seltsam, dass diese Einflussnahme in Zeiten, in denen man weiß, wie in der digitalen Welt mit Daten umgegangen wird, als selbstverständlich betrachtet wird.

„Wenn es altmodisch oder rückwärtsgewandt sein soll,
Schülern zu zeigen, dass ein Leben ohne Internet bereichernd und lebenswert sein kann,
dann bin ich sogar stolz darauf,
altmodisch und rückwärtsgewandt zu sein.“

Schule soll fit fürs Leben machen. Machen wir Schüler fit fürs Leben, wenn wir ihnen die letzten elektronikfreien Stunden ihres Alltags nehmen? Oder machen wir sie eher fit, wenn die Schule sich die Mühe aufbürdet, ihren Schülern mit Ausnahme von unterrichtsbezogenen Projekten eine lebendige und attraktive Alternative zur allumfassenden Fixierung auf das Virtuelle zu bieten?
Wir müssen den Schülern Alternativen zum Internetkonsum aufzeigen! Sonst werden Schüler bald im Alltag hoffnungslos überfordert sein, wenn der Akku ihres Handys leer ist oder, noch schlimmer, sie, aus welchen Gründen auch immer, stundenlang keinen Empfang haben.

Wer die Digitalisierung hinterfragt, gilt oft als altmodisch oder rückwärtsgewandt. Was tun?
Hier ist Selbstbewusstsein gefragt. Ich selbst habe kein Problem damit, als altmodisch oder rückwärtsgewandt zu gelten. Denn wenn es altmodisch oder rückwärtsgewandt sein soll, Schülern, die heutzutage ihr Intimleben auf Facebook ausbreiten und bis spät in die Nacht am PC sitzen und Counterstrike oder ähnliche Spiele zocken, zu zeigen, dass ein Leben ohne Internet bereichernd und lebenswert sein kann, dann bin ich sogar stolz darauf, altmodisch und rückwärtsgewandt zu sein. INTERVIEW: ANDREAS BUBROWSKI

Linksunten: Veröffentlichungen zum Thema in CJD-UPDATE (Auswahl)

  1. Im digitalen Klassenzimmer, Ein Plädoyer für den analogen Unterricht, von Arne Ulbricht, Süddeutsche Zeitung, 22. November 2014