„Nationalsozialismus – bei uns doch nicht! Oder doch ?“ – ein Besuch in der NS-Gedenkstätte Trutzhain
(aus den Berichten von Jonas Baumann, Fabian Becker, Isa Beckmann, Niklas Begger, Frank Heide, Felix Kappauf, Jana Schipplick, Anneke Schlußnus und Patrick Zinn (alph. Folge) zusammengestellt)
Beim Thema Nationalsozialismus fallen immer wieder Städtenamen wie München oder Berlin. Die schrecklichen Schicksale erscheinen weit weg, fast so, als würden sie mit uns nichts zu tun haben. Doch stimmt das wirklich? Könnte das Leid nicht vielleicht greifbarer sein, als wir zunächst annehmen?
Zeitweise bis zu 11.000 Kriegsgefangene
Am 15. September besuchte der Geschichtsleistungskurs der Jahrgangsstufe 13 mit Lehrerin Katharina von Urff die Gedenkstätte Trutzhain. Zunächst informierte uns die Geschichtslehrerin der Melanchthon-Schule Steinatal, Frau Forst, über die Entstehung und Geschichte des Ortes. Trutzhain gehört heute zu Schwalmstadt und zählt 800 Einwohner. Vor 1939 lagen dort nichts außer Grünflächen, auf welchen nach dem Überfall auf Polen im September 1939 das größte Kriegsgefangenlager (damalige Bezeichnung STALAG IX A Ziegenhain) auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen entstand. Anfangs standen dort nur Zelte, später hatte die Gefangenen ihre Baracken selbst gebaut. Zeitweise waren dort bis zu 11.000 Kriegsgefangene polnischer, französischer, niederländischer, belgischer, britischer, serbischer, italienischer und amerikanischer Herkunft inhaftiert, von denen die meisten in der Landwirtschaft oder in der Industrie arbeiten mussten. Die Verteilung der Arbeitskommandos in der Umgebung Ziegenhains konnten wir auf einer interaktiven Karte nachvollziehen. Überraschend war dabei für uns, dass selbst in kleinen Orten bis zu 25 Kriegsgefangene verschiedenster Herkunft arbeiten mussten.
Nach Befreiung diente das Lager als Civil Internment Camp 95. Dort wurden Mitglieder der Waffen-SS, der NSDAP und der SS und Wehrmachtssoldaten untergebracht. Dieses Lager sollte den nationalsozialistischen Insassen demokratisches Gedankengut vermitteln. Es bestand bis 1946 und wurde durch ein DP-Lager ersetzt. Dort wurden sogenannte Displaced Persons, zum Beispiel ehemalige Kriegsgefangene und Juden, bis zu ihrer Ausreise untergebracht. Zuletzt wurde die Baracken von Heimatvertriebenen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland genutzt. Vor ihrem Eintreffen gab es in der Region zwar einige Handwerksbetriebe, doch nachdem die Flüchtlinge dort untergebracht wurden, entstanden viele Handwerksbetriebe und bald das neue Dorf Trutzhain. Bei der einer Führung später durch den Ort wurde beispielsweise eine damals entstandene Kunstblumenfabrik gezeigt.
Doch zunächst folgte nach der eigenständigen Erkundung des kleinen Museums Gruppenarbeit: unser Kurs erhielt Informationsmaterial zu verschiedenen Gefangenen des STALAG IX A. Während sich eine Gruppe mit der spannenden Geschichte eines französischen Kriegsgefangenen beschäftigte, der ein Verhältnis mit einer deutschen Frau aus Hünfeld hatte, rekonstruierte unsere Gruppe auf Basis von Dokumenten und Akten den Lebenslauf eines sowjetischen Kriegsgefangenen W.W., der bereits 8 Monate nach Ankunft in Trutzhain verstarb. Wir konnten herausarbeiten, dass W. W. vermutlich an Überanstrengung durch Strafarbeit in einer Munitionsfabrik bei Allendorf sowie an mangelnder Ernährung und ausbleibender Hygiene aufgrund der deutlich schlechteren Bedingungen im extra-abgezäunten Bereich für sowjetische Kriegsgefangene verstorben ist.
Meine Gruppe hatte die Aufgabe, sich mit dem amerikanischen Kriegsgefangenen Roddie Edmonds im Stalag IX zu beschäftigen. Wir fanden heraus, dass er über 200 jüdisch-amerikanische Soldaten das Leben rettete, indem er den Befehl des deutschen Kommandanten verweigerte, diese von den restlichen amerikanischen Kriegsgefangenen auszusondern. Obwohl er somit sein Leben riskierte, knickte er trotz vorgehaltener Waffe nicht ein und rettete seine jüdischen Mitgefangenen.
Die tiefe Abneigung der Nationalsozialisten gegen die Sowjetunion wurde schon bei dem Aufbau des STALAG deutlich, die Sowjets hatten einen abgetrennten Bereich und wurden viel schlechter als die anderen Gefangenen behandelt. Diese Abneigung wurde auch bei der letzten Station der Exkursion deutlich, die Friedhöfe. Zuerst ging es auf den sogenannten „Russenfriedhof“. Dieser ist im Wald, weit weg von allem anderen. Die toten Sowjets wurden dort verscharrt, teilweise in Massengräbern und ohne Zeremonie. Bis heute fällt es schwer, die Toten zu identifizieren. Auf diesem Friedhof wurden dann während der Entnazifizierung auch Altnazis begraben und sogar ein Gedenkstein errichtet. Die Tatsache, dass Täter und Opfer hier beieinander begraben liegen, hinterlässt doch Erstaunen. Eine Zeitlang hielten Neonazis an diesem Events zur Glorifizierung. Inzwischen gibt es auch für die Sowjets Gedenktafeln.
„Zeitzeugenberichte haben uns sehr bewegt“
Der andere Friedhof war für die Westalliierten vorgesehen, dort wurden die Toten mit mehr Würde beerdigt. Heute dient dieser Friedhof als Gemeindefriedhof. Insbesondere die Zeitzeugenberichte und das Auseinandersetzen mit den Geschichten einzelner Menschen haben uns sehr bewegt, denn es hat uns nochmals gezeigt, dass hinter all den Fakten und Zahlen, die man lernt, reale Geschehnisse mit schrecklichen Schicksalen stehen. Gerade deswegen ist es wichtig, auch noch heute die Identitäten der verstorbenen Menschen herauszufinden. Besonders die Leiterin Frau Brandes setzt sich dafür ein, dass Angehörige der Gefangenen erfahren können, wo ihre Verwandten gestorben und begraben sind, um Abschied nehmen zu können. So konnte sie einer Familie aus Weißrussland Gewissheit geben, dass der Ehemann der 102-jährigen Frau im STALAG IX A gestorben ist. zusammengestellt von KATHARINA VON URFF
(Gestaltung: T. Fleck)
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