Handschrift: Schreiben mit Stift und auf Papier macht schlau
Karin Krieg, Schreibmotorik Institut (Heroldsberg), im Interview über die Bedeutung der Handschrift für Heranwachsende
CJD-UPDATE: Angenommen, Eltern einer Grundschule stehen vor der Wahl einer „Tablet-Schule“, an denen es keine Hefter, Bücher und Hausaufgabenhefte mehr gibt, der Unterricht stattdessen mit Tablets gehalten wird, und einer Schule, in der in den fünften Klassen traditionell Schreiben auf Papier, Lesen in Büchern und Planen in einem Hausaufgabenheft erfolgt. Was würden Sie den Eltern raten?
Karin Krieg: In den USA wird das Schreiben bereits in vielen Staaten nur noch in Kindergarten und Grundschule empfohlen. Danach liegt der Schwerpunkt auf dem Schreiben mit der Tastatur. Psychologen und Gehirnforscher allerdings warnen davor, das Schreibenlernen mit der Hand als ein Relikt der Vergangenheit anzusehen. Die positiven Zusammenhänge zwischen Handschreiben und der generellen schulischen Entwicklung sind deutlich.
Kinder lernen nicht nur schneller lesen, wenn sie erst lernen, mit der Hand zu schreiben. Sie entwickeln auch bessere Ideen und behalten Informationen besser. Es zählt also nicht nur, was sie schreiben, sondern wie. „Wenn wir mit der Hand schreiben, wird ein spezieller Bereich im Gehirn automatisch aktiviert“, sagt Stanislas Dehaene, Psychologe am Collège de France in Paris. Die Bewegung, die zu dem geschriebenen Wort führt, wird mental in unserem Gehirn abgespeichert. Das Lernen wird dadurch erleichtert.
Eine Studie von Karin James, Psychologin an der Indiana University, bestätigt dies deutlich. Kindern, die noch nicht lesen und schreiben konnten, wurde ein Buchstabe oder eine Form gezeigt. Danach wurden sie aufgefordert, diese auf eine von drei Arten wiederzugeben: nachspuren auf vorgegebenen gepunkteten Linien, malen auf einem leeren weißen Blatt oder auf einer Tastatur tippen. Danach wurde ihnen das Bild erneut gezeigt, während Aufnahmen ihres Gehirns in einem Scanner gemacht wurden. Die Forscher fanden dabei heraus, dass Kinder, die freihändig nachzeichneten, verstärkte Gehirnaktivitäten zeigten in den Bereichen, die bei Erwachsenen aktiv sind, wenn sie lesen und schreiben. Dagegen gab es bei den Kindern, die nachspurten oder mit der Tastatur schrieben, keine derartigen Aktivitäten. Wir dürfen also nicht unterschätzen, wie wichtig das Schreibenlernen mit der Hand für die Kinder als Basisfähigkeit für den generellen Lernprozess ist.
Bei Transferleistungen fiel
die Laptop-Gruppe deutlich ab
In der Süddeutschen Zeitung werden Sie zitiert, dass „je unverkrampfter und automatischer ein (getestetes) Mädchen schreibt, desto konzentrierter könne sie beim Diktat zuhören und fehlerfreier das gesprochene Wort in geschriebenes umsetzen1.“ Dann müsste es doch eigentlich von Vorteil sein, das anstrengende Schreiben gleich ganz wegfallen zu lassen und auf Touch-Screens umzustellen?
Das Schreiben ist nur so lange anstrengend, bis es automatisiert ist. Wir kennen das alle vom Autofahren: Wenn wir nicht mehr darüber nachdenken müssen, in welchem Gang wir gerade fahren und wann die Kupplung betätigt werden muss, wenn wir das also alles automatisch machen, werden wir auch sicher im Straßenverkehr. Dann haben wir Kapazitäten in unserem Gehirn frei für kritische Situationen. Genauso ist es beim Schreiben. Je eher Kinder „blind“ schreiben können, also alle Bewegungen, die zum Schreiben gehören, automatisiert haben, müssen sie nicht mehr darüber nachdenken, wie die Bewegung die Form auf dem Papier erzeugt, sondern können besser zuhören und sich darauf konzentrieren, welche Form auf das Papier soll, also welches Wort in der richtigen Schreibweise.
Untersuchungen bei Studenten durch die Psychologen Pam Mueller von der Universität Princeton und Daniel Oppenheimer von der Universität von Kalifornien in Los Angeles zeigen auf, welche Konsequenzen das Schreiben mit der Tastatur hat. Die Forscher ließen ihre Probanden Vorträge protokollieren – entweder auf dem Rechner oder mit Stift und Papier. Anschließend prüften sie die Teilnehmer mit unterschiedlich konzipierten Aufgaben. Wurde nur das reine Faktenwissen abgefragt, zeigten sich nur geringe Unterschiede. Bei Transferleistungen fiel die Laptop-Gruppe hingegen deutlich ab. Die Studenten verarbeiten Inhalte weniger effektiv, als wenn sie mit der Hand mitschreiben würden. Mit der Hand zu schreiben, stimuliert wohl die kognitive Verarbeitung, so die Autoren2.
Genau dafür setzt sich das Schreibmotorik Institut ein: dass insbesondere Kinder eine Chance haben, eine ermüdungsfreie, schnelle und lesbare Handschrift zu erlernen – eine wichtige Grundlage für späteren Lernerfolg. Motorische Fähigkeiten und Spaß am Schreiben mit der Hand sind dafür unverzichtbar und sollen in Kindergarten, Vor- und Grundschule gefördert werden. Dafür vermitteln wir wissenschaftlich fundierte Bausteine für einen erfolgreichen Schreibunterricht, zum Beispiel Lehrmaterialien und Trainings für Pädagogen.
Mit der Hand schreiben verbessert Merkfähigkeit
Es heißt, richtiges Schreiben mit der Hand fördert das Lernen, etwas mit einem Stift zu notieren, verankert das Notierte besser im Gehirn. Wie weit ist diese Aussage wissenschaftlich belegt?
Das Handschreiben hat positive Effekte für die Lernleistung von Schülern. Wissenschaftler fanden heraus: Mit der Hand zu schreiben…
… verbessert die Merkfähigkeit.
Kindern zwischen vier und fünf Jahren verschaffte es im Experiment einen klaren Vorteil, wenn sie die „richtigen“ Buchstaben auch in Schreibschrift gelernt hatten. Sie erkannten die Schriftzeichen eindeutig besser als ihre Altersgenossen, die zuvor nur mit Computer und Tastatur üben konnten3. Auch Studenten, die Notizen per Hand machten, konnten sich Inhalte besser merken als Kommilitonen, die mit dem Laptop arbeiteten4.
… zwingt zur gedanklichen Durchdringung der Thematik.
Das handschriftliche Produzieren eines Textes ist ein weit komplexerer, herausfordernder Prozess als die Erstellung eines Textes mit dem Computer. Der Verfasser muss sich vorab darüber Gedanken machen, was er schreiben will5.
… unterstützt Lesenlernen und Texte Verfassen.
Dass es eine wechselseitige Beeinflussung von sprachlichem und schriftlichem Ausdruck gibt, ist unbestritten, da Schrift auch immer ein Werkzeug zum Erkennen von Sprache ist6. Woodcock und Johnson (1990) fanden Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Erlernen einer Handschrift und der Fähigkeit, Texte zu verfassen. Mehrere Studien zeigten, dass das Erlernen einer Handschrift das Schreibenlernen unterstützt7.
… verbessert die Rechtschreibung.
Es konnte gezeigt werden, dass Kinder mit weniger ausgeprägten grafischen Fähigkeiten schlechter bei Diktaten abschnitten8.
Bis sie automatisiert, schnell, effizient
und lesbar mit der Hand schreiben können
Bis zu welchem Alter würden Sie das richtige Schreiben dem computerisierten Setzen von Zeichen empfehlen vorzuziehen? Oder: ab welcher Jahrgangsstufe etwa kann man aus Ihrer Sicht getrost mobile Endgeräte im Unterricht verwenden.
Wir müssen Kinder frühzeitig ab dem Kindergarten so lange aktiv in der Entwicklung ihrer Motorik begleiten, bis sie automatisiert, schnell, effizient und lesbar mit der Hand schreiben können. So wissen wir heute, dass etwa jede vierte Handschrift von Kindern am Ende der Grundschule als unzureichend gilt (33 Prozent der Jungen und 10 Prozent der Mädchen können nicht leserlich schreiben9). Dabei beeinflusst die Qualität der Handschrift nicht nur die Einschätzung schulischer Kompetenz durch die Lehrkraft10, sondern feinmotorische Defizite haben auch emotionale Auswirkungen, die für die schulische Motivation bedeutsam sind11. Es gilt also darauf zu achten, dass das Schreiben mit der Hand nicht vernachlässigt wird. Gegen eine parallele Nutzung von mobilen Endgeräten ist nichts einzuwenden.
Motorische Leistungsfähigkeit nimmt ab
In den letzten Jahren ist festzustellen, dass Schüler nach dem Übergang auf die Realschule oder das Gymnasium zunehmend Schwierigkeiten haben, zusammenhängend also mit Ligaturen zu schreiben. Wie ist das zu erklären. An extensiver Nutzung mobiler Endgeräte kann es nicht liegen. Nur wenige Schüler nutzen zu diesem Zeitpunkt solche Geräte ausgiebig.
Wir alle wissen, dass sich die Lebenswelt von Kindern sehr verändert hat. Sie spielen deutlich weniger draußen im Freien, sie spielen mehr in der Wohnung, sie erobern nicht mehr ihre Umwelt, sondern werden hin- und hergefahren und sie sind im Alter von 10 bis 13 insgesamt etwa 108 Minuten mit audiovisuellen Medien beschäftigt12. Das hat Konsequenzen: die motorische Leistungsfähigkeit nimmt ab.
„Der Unterschied zwischen Schreibenlernen und Diktat schreiben ist vergleichbar mit dem zwischen Laufenlernen und Marathon laufen“, so Dr. Marquardt, Motorik- und Handschriftexperte mit mehr als 20 Jahren Forschungserfahrung zu den motorischen Grundlagen des Schreibens. Gemeinsam mit Karl Söhl, der langjährige Erfahrung als Seminarrektor besitzt, entwickelte er im Auftrag von STABILO neuartige Lehrmaterialien und eine neue, wissenschaftlich gestützte Schreibmethode. „Unsere Hand leistet beim Schreiben enorm viel Arbeit“, so Prof. Dr.-Ing. Ralph Bruder, Vizepräsident der TU Darmstadt und Leiter des IAD, Institut für Arbeitswissenschaft in Darmstadt. „Aber das kann durch ergonomische Stifte erleichtert werden. Das gilt für Erwachsene, aber auch für Schulanfänger.“
Die Buchstabenformen kennen, bedeutet noch nicht schreiben können. Die Schreibbewegungen sind etwa zehnmal schneller als das formgenaue Nachmalen. Dazu müssen Kinder eine geeignete Schreibmotorik entwickeln, der Bewegungsrhythmus und Bewegungsautomatisierung müssen bereits frühzeitig gefördert werden. Denn schreiben ist Bewegung. Beim Schreibenlernen sollte das Kind bereits frühzeitig schnellere Schreibbewegungen üben, auch wenn diese nicht so „perfekt“ aussehen. Es wird von Anfang an eine flüssige Bewegung beim Spuren einer Buchstabenform angestrebt. Die Idealform steht nicht an erster Stelle.
Es beginnt mit der richtigen Sitz- und Stifthaltung. Es sollte aber auch beachtet werden, dass das Instrument des Schreibers genauso wichtig ist wie das eines Musikers. Am besten lernen Kinder, wenn sie Spaß am Erkunden einer Bewegung und des entsprechenden Resultats haben. Auch die Individualität beim Schreiben sollte positiv eingesetzt werden. Neue Lernmodelle beschreiben motorisches Lernen als die wiederholte Suche nach einer individuellen Lösung und nicht als Wiederholung vorgegebener Lösungen. Gerade Kinder sind beim motorischen Lernen sehr kreativ und experimentierfreudig.
Wenn wir unsere erwachsenen Handschriften betrachten, fällt auf, dass wir nur an bestimmten (fast immer gleichen Stellen) anbinden oder absetzen, das heißt wir haben gelernt, effizient zu schreiben, wir haben uns also einen optimalen Bewegungsablauf antrainiert. Anbindungen zwischen bestimmten Buchstaben sind nicht ökonomisch und verlangsamen dadurch unser Schreibtempo. Es ist also fraglich, ob es sinnvoll ist, Kinder zu Anbindungen anzuhalten oder eher eine frühe Annäherung an eine lesbare effiziente Erwachsenenhandschrift anstreben. Das oberste Ziel ist doch die Entwicklung einer flüssigen und formschönen, aber gleichzeitig auch unverkrampften und automatisierten Schrift.
Schreiben und Schrift mit
viel Spaß und Kreativität entdecken
Intuitiv wissen viele Eltern, dass Schreiben mit der Hand ihren Kindern förderlich ist. Man möchte aber auch dem wachsende Bedürfnis der Kinder entgegenkommen, ein schickes Smartphone oder Tablet zu besitzen. Was können Eltern tun, um trotz digitaler Endgeräte, ihre Kinder „am richtigen Schreiben zu halten“.
Kinder sind von Grund auf neugierig und wissbegierig. Sie sehen, dass Erwachsene eine „Geheimschrift“ haben und wollen diese unbedingt erlernen. Wenn es dann allerdings um stures Üben und Schwungübungen geht, lässt die Begeisterung schnell nach. Kinder müssen von Anfang an das Schreiben und die Schrift mit viel Spaß und Kreativität entdecken dürfen, während die Schreibmotorik systematisch aufgebaut wird, das heißt, dass Kinder zum Beispiel mit unterschiedlichem Tempo schreiben, auf unterschiedlichen Unterlagen, mit unterschiedlichem Druck oder in einem bestimmten Rhythmus. Das gute alte „Stadt/Land/Fluss-Spiel“ wäre zum Beispiel eine Geschwindigkeitsübung für ältere Kinder. Eltern und Pädagogen sollten mehr Wert auf eine gute und flüssige Motorik beim Schreiben legen, als auf die exakte Form und Anbindung. INTERVIEW: ANDREAS BUBROWSKI
SCHREIBMOTORIK INSTITUT – Bundesweit einzigartige Einrichtung. Es beschäftigt sich mit der Forschung auf den Gebieten der Schreibmotorik und der Schreibergonomie, vernetzt relevante Institutionen im Bereich des Handschreibens und versammelt Experten, die sich seit Jahren in Theorie und Praxis mit effizientem Schreiben beschäftigen. Das Schreibmotorik Institut hat den Anspruch, das spezielle Wissen rund ums (Hand-) Schreibenlernen, in seiner Gesamtheit im Fokus zu haben. Es bietet Training für Pädagogen an und hat Lehrmaterialien für den Schreibunterricht für Vor- und Grundschule entwickelt. Leitung des Instituts: Dr.-Ing. Marianela Diaz Meyer.
- Süddeutsche Zeitung, 30./31. August 2014: Schreiben? Mit der Hand! ↩
- Ink on Paper: Some Notes on Note Taking ↩
- Jean-Luc Velay und Marieke Longcamp, GEHIRN&GEIST 3/2007 ↩
- Aktuelle Studie der Uni Princeton ↩
- vgl. Van der Ley, 2010, S. 35 ↩
- vgl. Günther, 1996, S. 910 ↩
- Graham et al., 2000 ↩
- vgl. Vinter, 2010 ↩
- Fraunhofer Studie 2012 ↩
- vgl. Sweedler-Brown, 1992 ↩
- Losse/Henderson/Elliman/Hall/Knight/Jongmans, 1991 ↩
- Schuleingsuntersuchungen Mannheim ↩
Kommentare
Das ist aber kein Grund auf das Schreiben am Tablett komplett zu verzichten. Das umzusetzen liegt jetzt an den Schulen. Vielleicht sollten diese aber ersteinmal von den Steinzeitbüchern weg zu EPUB. Vorteil: Alter Stoff kann per Update aktualisiert werden, Rechtschreibfehler verbleiben nicht über Jahrzehnte in Büchern und für die Kinder / Jugendlichen ist es eine Entlastung des Rückens.
J.Lu
PS.: 1000 Zeichen sind einfach zu wenig
Was viele Vergessen, auf dem Tablett gibt es nicht nur die Möglichkeit mit der Tastatur zu schreiben! In meinem Studium schreibe ich zu 90 % mit einem Stift…..auf einem Tablett. Ich habe also den Vorteil, Geschriebenes schnell weiterleiten zu können, keine großen Wälzer mitschleppen zu müssen und trotzdem alle Unterlagen immer parat zu haben.
Ich halte es für essentiell mit dem Stift schreiben zu können. Nicht nur aus den angesprochenen „besser-lernen-Effekten“, sondern auch mit Berücksichtigung der Tatsache, dass es nicht immer und überall Strom gibt. Was passiert, wenn das Tablett mal leer ist. Ein „Fallback“ muss gegeben sein.