Die erste Reise (1): Leyla und der Kerl aus dem Auto
FANTASY-SERIE VON MAYA PHILIPPI
„Ach verdammt!“, fluchte Leyla und hielt sich ihren Knöchel. Sie hatte sich nicht konzentriert und war umgeknickt. Sie ließ sich ins Gras fallen und begann ihren Wanderschuh aufzuschnüren, um ihren Fuß besser inspizieren zu können. Nichts zu sehen. Sie versuchte aufzutreten. Auch nichts. Erleichtert atmete sie aus und sagte: „Dem Himmel sei Dank! Ich bin eh schon spät dran, noch mehr Probleme kann ich mir nicht leisten!“
Besondere Gabe von Leyla: Buch-Reisen
Leyla lief querfeldein über ein großes Feld, ihren gewaltigen Rucksack mitsamt Zelt auf dem Rücken. Sie war auf dem Weg nach Hertfordshire, um dort das erste Mal ihre besondere Gabe zu nutzen. Das Buch-Reisen! Die Gabe, in Bücher hineinzutauchen, die Geschichten miterleben und verändern zu können. Schon immer war Leylas Familie im Besitz der Gabe gewesen. Und da sie letzten Monat 17 geworden war, war es für sie Zeit, das erste Mal zu reisen. Die Geschichte, welche sie besuchen würde, war ihr Lieblingsroman. Ein Klassiker: „Stolz und Vorurteil“. Als man ihr die Voraussetzungen für ihr erstes Buch genannt hatte, kam es ihr sofort in den Sinn. Schon immer wollte sie mit den Bennet-Schwestern den Ball auf Netherfield besuchen gehen! Umso besser, dass sie nicht allzu weit weg vom Schauplatz des Romans entfernt wohnte. Die Regeln besagten, dass der Traveler bei seinem ersten Buch allein zum Ort wandern müsse, wo sich die Geschichte abspielt. Nur von dort schaffte man es hinein. Leyla war deshalb bereits eine Woche unterwegs und sollte am nächsten Tag am Platz, wo das Haus der Bennets im Roman stehen würde, ankommen.
Während sie durch das hohe Gras stakste, bekam sie wieder einen klaren Kopf. Obwohl sie am Anfang über das Wandern nur gestöhnt hatte, gefiel es ihr inzwischen ganz gut. Sie konnte in Ruhe nachdenken und wurde nicht gestört. Das Beste war aber, dass sie endlich mal keinen Unterricht hatte. Seit Leyla denken konnte, wurde ihr alles beigebracht, was sie in ihrer Zukunft als Traveler brauchte. Von der Technik, wie man ins Buch hineinkommt, bis hin zum richtigen Benehmen im Roman. Das alles rief sie sich auf ihrem Weg noch einmal ins Gedächtnis. Sie wanderte, bis ihr der Schweiß auf der Stirn stand und ihre Oberschenkel schmerzten.
Am Rand des Waldes ließ sie sich in den Schatten einer hohen Tanne fallen, löschte Durst und Hunger, ruhte sich aus und machte sich danach wieder auf den Weg. Die Stunden vergingen. Bald kam eine Landstraße in Sicht. Leyla jubelte vor Freude. „Wenn ich der jetzt folge, taucht irgendwann die Stadt und das Bed & Breakfast auf“, dachte sie und ging freudig weiter. Die wenigen Autofahrer, die vorbeifuhren, beachteten die Teenagerin nicht, die allein unterwegs war, und Leyla war es ganz recht. Umso beunruhigter war sie, als sie merkte, wie ein Auto abbremste und im Schritttempo neben ihr weiterfuhr.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, ertönte eine Stimme. Der Fahrer, ein junger Mann, höchstens drei Jahre älter als Leyla, hatte das Fenster heruntergelassen und grinste sie an.
„Nein!“, entgegnete sie spöttisch. Warum hatte sie sich nochmal Sorgen gemacht? Mit dem sollte sie es leicht aufnehmen können. Sie hatte in ihrer Ausbildung neben der Sprache des 19. Jahrhunderts auch allerhand Kampfarten bei ihrem Trainer gelernt. Ihr Selbstvertrauen stieg.
„Sicher? Du siehst verloren aus!“ Er zwinkerte ihr zu und schob sich seine pechschwarzen Haare aus der Stirn.
Genervt wandte Leyla den Blick wieder auf die Straße. Sie war nicht in Stimmung zum Flirten, so verschwitzt und durstig, wie sie war. „Ganz sicher!“, antwortete sie patzig und blieb stehen. Augenblicklich stoppte auch der Wagen.
„Ich könnte dich bis in die Stadt mitnehmen. Mit dem Auto sind es nur noch 25 Minuten!“
„Was verstehst du an einem Nein nicht?“, fragte Leyla und starrte ihn wütend an.
„Ich fahre ja schon. Kein Grund, sich aufzuregen!“ Er startete den Motor und war nach ein paar Sekunden hinter der nächsten Kurve verschwunden.
Da saß er! … Der Kerl aus dem Auto!
Obwohl sie gerne etwas Gesellschaft gehabt hätte, war Leyla froh, dass sie nicht in den Wagen gestiegen war. Am frühen Abend erreichte sie das kleine Bed & Breakfast, welches sie für die letzte Nacht ihrer Wandertour eingeplant hatte. Sie bezog ihr Zimmer, duschte und ruhte sich ein wenig aus. Als sie wieder bei Kräften war, gesellte sie sich zu den anderen Gästen in den Gemeinschaftsraum, um nach einem Restaurant in der Nähe zu fragen. Doch sofort, als sie den Raum betrat, stoppte sie. Da saß er! Schwarzes Haar, blaue Augen, Lederjacke. Der Kerl aus dem Auto! Schnell schlüpfte Leyla in den Raum und setzte sich in eine Ecke, wo er sie nicht sehen konnte. Glücklicherweise war er in ein Buch vertieft. Widerwillig zog sie den Stadtplan hervor, um sich besser zurechtzufinden.
In den Plan vertieft, hörte sie ihn nicht aufstehen und näher kommen. Plötzlich saß er ihr gegenüber. „Hey! Hab dich gar nicht bemerkt!“, sagte er. Leyla schreckte auf. „Ups! Sorry, wollte dich nicht erschrecken!“ Leyla blieb die sarkastische Bemerkung im Halse stecken. Es waren aber weder die meerblauen Augen noch seine Grübchen, die sie aus dem Konzept brachten. Obwohl auch das gute Gründe gewesen wären… Es war die filigrane Silberkette oder vielmehr der Anhänger, der ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ein aufgeschlagenes Buch, auf dem ein großes, scharlachrotes „R“ prangte.
„Du bist ein Reader?“, flüsterte sie ehrfürchtig. Seine Augen wurden groß, doch ließ er sich nichts anmerken. Er entgegnete: „Du fragst mich, ob ich lese?“ Er tat, als würde er sie nicht verstehen, doch Leyla sah es ihm an, dass sie richtig lag. Vorsichtig zog sie ihre Kette unter ihrer Bluse hervor. Das gleiche Buch, anderer Buchstabe. „Ein T für Traveler“, nuschelte er nach einem Blick auf ihren Anhänger. Die Reader beschützten die Buchwelt. Immer wenn ihnen eine Ungereimtheit beim Lesen auffiel, benachrichtigten sie einen der Traveler, damit er nachsah, ob im Roman alles in Ordnung war. Die Gabe der Traveler vererbte sich in Leylas Familie und die Gabe der Reader, auf alle Kleinigkeiten, alle Abnormitäten beim Lesen zu achten, vererbte sich bei den Browns. „Du bist ein Brown!“, stieß Leyla hervor. „Ja. Alex Brown. Und mit wem hab ich das Vergnügen?“ Er hielt ihr die Hand entgegen. Leyla ergriff sie, brachte aber nur ein: „Leyla“, heraus. „Schön dich kennenzulernen, Leyla! Was führt dich hierher?“ „Mein erstes Buch!“
Ihre Gedanken wanderten hin zu Alex´ tiefblauen Augen
Während Leyla Alex von ihrer bisherigen Reise und dem noch kommendem Teil erzählte, entspannten sich beide merklich. Sie alberten herum und hatten ziemlich viel Spaß. Alex erzählte ihr von seiner Ausbildung zum Reader und Leyla berichtete über ihren Unterricht. Als sie sich trennten, um schlafen zu gehen, war es nach Mitternacht und Leyla fühlte sich wohl wie schon lange nicht mehr. Umso trauriger war sie, als sie am nächsten Morgen aufbrach, um ihre Mission zu Ende zu bringen. Sie machten aus, sich wieder zu treffen, wenn Leyla es aus Stolz & Vorurteil herausgeschafft hatte. Während sie im Roman war, würde in der Realität keine Zeit vergehen, bis sie wieder da war. Leyla brach auf und erreichte nach einigen Stunden den Ort, wo sie zum ersten Mal reisen würde! Ihre Hände zitterten, als sie das Zelt aufbaute, so aufgeregt war sie. Nach einer kurzen Pause nahm sie ihre Ausgabe von Stolz & Vorurteil und setzte sich ins Gras. Das Prozedere konnte beginnen!
Zuerst konzentrierte sie sich auf jede Kleinigkeit ihrer Umgebung. Das Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Baches, das Knacken der Äste. Wenn sie aus der Geschichte zurückkehren möchte, würde sie die Situation perfekt wiedergeben müssen, um es aus dem Roman wieder herauszuschaffen. Danach fing sie an, sich das Anwesen der Bennets vorzustellen. Den Ort, wo sie in die Geschichte eintauchen würde. Das große Haus, der Garten, die Tiere. Doch sobald sie zum See kam, wanderten ihre Gedanken hin zu Alex´ tiefblauen Augen und brachten sie völlig aus dem Konzept! Sie brauchte drei Anläufe, bis sie es endlich schaffte. Jetzt sah sie alles vor ihrem inneren Auge und je mehr Details sie dem Bild in ihrem Kopf hinzufügte, desto stärker spürte Leyla den Roman. Sie spürte den Sog der Geschichte. Sie spürte, wie sie Leyla umschlang und mit sich zog. Die letzte Kleinigkeit brachte das Verlangen des Romans zum Überlaufen und Leyla fiel. Doch statt eines Aufpralls spürte sie etwas anderes. Etwas Weiches. Sie schlug die Augen auf. Leyla lag auf einem Sofa. Sie befand sich in einem Raum. In einem Haus. Im Haus der Bennets! Sie hatte es geschafft! Sie hatte es wirklich geschafft! Leyla strahlte. Das harte Training hatte sich ausgezahlt. Das Erste, was sie hörte, war eine schrille Stimme, die rief: „Mein lieber Mr. Bennet, hast du schon gehört, dass Netherfield Park endlich verpachtet worden ist?“ (Fortsetzung folgt)
Anmerkung: Schülern des CJD Oberuff steht nach Absprache mit der Onlineredaktion CJD-UPDATE für eine Veröffentlichung eigener künstlerischer Werke zur Verfügung. Interessenten bitte einfach melden.
(Gestaltung: Andreas Bubrowski)
Kommentare