Teufelskreis. Grafik: Bärbel Yamine
Teufelskreis. Grafik: Bärbel Yamine

Ein Teufelskreis ist ein System, in dem sich mehrere Faktoren gegenseitig verstärken und den psychischen Zustand einer Person ver­schlech­tern. Im Bezug auf eine Lernstörung – etwa einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) ist dies natürlich fatal, denn der Misserfolg ist vorpro­grammiert. Eine LRS kann verschiedene Ursachen haben, das Symptom ist jedoch eindeutig sichtbar: Probleme im Lesen und/oder Schreiben.

Unser Schulsystem legt großen Wert auf den Erwerb gerade dieser Kompetenzen und fordert sie in fast allen Fächern ein. Was aber ist, wenn ein Schüler aufgrund einer LRS diese Kompetenzen nicht in dem Umfang unter Beweis stellen kann wie andere? Wenn das Synthetisieren von Buchstaben auch noch in der fünften Klasse mühsam ist, das Abspeichern von Wörtern und Silbensequenzen nur teilweise funktioniert und sich die Rechtschreibkompetenz – trotz intensiven Übens zu Hause oder in der Nachhilfe – nicht oder nur sehr langsam verbessert und immer noch überdurchschnittlich viele Fehler gemacht werden?

Misslungene Versuche schulisch erfolgreich zu sein,
frustrieren oft mehr als die Defizite selbst

In diesen Fällen besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Schwäche im Lesen/Schreiben zu einer strukturellen Lernstörung entwickelt. Das bedeutet, dass sich betroffene Schüler in ihrem Selbstwertgefühl als minderwertig und unfähig erleben und ein Leistungseinbruch in anderen Bereichen droht. Kinder mit einer Schreib- oder Leseschwäche werden im Unterricht und bei der Erledigung der Hausaufgaben täglich mit ihren Defiziten konfrontiert. Dies ist frustrierend und demütigend. Dennoch sind viele in der Lage durch erfolgreiche Leistungen in Fächern wie Mathematik, Musik, Kunst oder Sport zu glänzen. Diese Form der Kompensation findet meistens soziale Anerkennung und ermöglicht es diesen Schülern, ein positives Selbstwertgefühl zu bewahren.

Gelingt eine Kompensation jedoch nicht, werden andere Wege gesucht, um das Bedürfnis nach Anerkennung und Respekt zu befriedigen, diese können zum Teil sehr destruktiv sein. Misslungene Versuche schulisch erfolgreich zu sein, frustrieren oft mehr als die Defizite selbst und verstärken das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung in erhöhtem Maße. Aggressive Handlungen wer­den leicht missverstanden, die Reaktion darauf ist meist Unverständnis, verbunden mit Vorwürfen und Sanktionen. Reagiert ein Schüler depressiv, fällt es leichter eine Verbindung zwischen Lernfrust und Handlung herzustellen. Die Autoren Dieter Betz und Helga Breuninger haben in ihrem Stan­dard­werk „Teufelskreis Lernstörung1“ die verschiedenen Formen einer strukturellen Lernstörung aufgezeigt und den möglichen Prozess in vier Stadien erläutert. Eine kurze Zusammenfassung.

Stadium I: Ein Leistungsdefizit wird sichtbar

Dies ist ein Signal für den Grundschullehrer zu unterscheiden, ob der Schüler außerschulische Hilfe braucht oder mit den bisherigen Methoden weiter gefördert werden kann. Eine LRS-Diagnostik wäre hier hilfreich. Wichtig ist jedoch, dass die Bemühungen zum Erfolg führen. Oft wird in diesem Stadium dem Kind schon vermittelt, dass etwas mit ihm „nicht in Ordnung“ ist.

Stadium II: Schüler reagiert mit lernhemmenden Erklärungen

Das mögliche Störverhalten im Unterricht oder andere Verhaltensweisen, die sich negativ auf den Lernprozess auswirken, sollten näher betrachtet werden. Hilflose Aufforderungen an das Kind, etwa „du musst mehr üben, du musst dich mehr anstrengen, du musst dich besser konzentrieren…“ sind hier wenig hilfreich.

Viele LRS-Schüler glänzen in Mathematik, Musik, Kunst oder Sport mit erfolgreichen Leistungen (Symbolbild). Foto: Jonas Neumann/CJD Oberurff
Viele LRS-Schüler glänzen in Mathematik, Musik, Kunst oder Sport mit erfolgreichen Leistungen (Symbolbild). Foto: Jonas Neumann/CJD Oberurff

Stadium III: Lernlücken, Konzentrationsstörungen, Vermeidungshaltung, Schul- und Versagensängste und Stresssymptome treten in Erscheinung

Die schulischen Misserfolge sind für den Schüler extrem belastend. Psychosomatische Reaktionen wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schwänzen, „Kaspereien im Unterricht“ und selbst Einnässen können vermehrt auftreten. Betz/Breuninger sprechen von einem „innerpsychischem Teufelskreis“.

Stadium IV: Eine stabile negative Lernstruktur mit Misserfolgserwartungen

Die destruktive Verhaltenssymptomatik verstärkt sich und der Schüler/die Schülerin gerät in eine Außenseiterposition, die psychosomatischen Beschwerden können sich verstärken. Der Schüler/die Schülerin hat bereits eine chronische Leistungsverweigerung entwickelt und kann keine Motivation mehr aufbauen. Manche Kinder und Jugendliche entwickeln eine regelrechte Aversion gegen Schule und werden zum „Schulverweigerer“.

Es ist wichtig genau hinzuschauen und
negative Einflüsse zu erkennen

Die vier Stadien eines „Teufelskreises Lernstörung“ werden aus Unkenntnis oft nicht wahrgenommen oder falsch interpretiert. Lernschwierigkeiten werden als Konzentrationsstörungen abgetan oder der Fokus der Aufmerksamkeit liegt nur auf der Verhaltensebene, insbesondere dann, wenn diese aggressiv oder extrem störend für andere sind. Tatsächlich ist es aber wichtig, genau hinzuschauen und die negativen Einflüsse zu erkennen, die zu einem Leistungsdefizit führen oder geführt haben.

Als Legasthenie-Therapeutin richte ich meine Aufmerksamkeit genau auf diesen Bereich. Denn es geht nicht (nur) darum, einem Schüler das Lesen und Schreiben zu vermitteln. Meistens haben die Kinder, für die ich in meiner Arbeit zuständig bin, schon viele Fördermaßnahmen durchlaufen – erfolgslos. Hoffnung auf den schulischen Erfolg, verbunden mit einer kritischen Erwartungshaltung, ist oft die Ausgangssituation in der Zusammenarbeit mit diesen Schülern. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Elternhaus/Internat und Schule besteht die Chance, betroffenen Schülern zu helfen den „Teufelskreis Lernstörung“ zu durchbrechen. Wenn es gelingt, die negativ prägenden Faktoren herauszufinden und weitgehend zu reduzieren, ist es dem Schüler möglich, sein vorhandenes Potential zu aktivieren und den Erfolg für sein Bemühen zu genießen.


Bärbel Yamine, Dipl. Sozialpädagogin/LRS-Therapeutin, Analytische Kinder- und Jugendlichenberaterin, ist Mitarbeiterin im PTZ des CJD Oberurff

(Gestaltung: BUB)

  1. Dieter Betz, Helga Breuninger: Teufelskreis Lernstörungen: Theoretische Grundlegung und Standardprogramm (Materialien für die klinische Praxis), Weinheim, 1998