Der kurze Weg vom „digital native“ zum digitalen Naivling
VERGEIGTE BILDUNG: EINDRÜCKE – ERKENNTNISSE – EINWÄNDE (TEIL I), VON JOSEF KRAUS1
Nürnberger Trichter 2.0? Im Jahr 1647 schrieb Georg Philipp Harsdörfer ein Lehrbuch mit dem Titel Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen. Daraus ist – auf Kupferstichen sichtbar – der Nürnberger Trichter geworden. Die Suche nach einem solchen war damals und scheint heute ein visionäres Anliegen. Zur Karikatur wird die Suche, wenn Bildungspolitik und Pädagogik nicht wahrhaben wollen, dass Lernen etwas Aktives ist, dass es mit Edutainment/Infotainment nicht getan ist und dass Lernen ohne personalen Bezug nicht geht. Die Flops, die man in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Sprachlabor und mit programmiertem Lernen landete, sollten Beleg genug sein.
Laptop-Klassen zur Freude von Bertelsmann, …, Samsung & Co.
Nun ist ein neues pädagogisches Trichterstudium angesagt: das des digitalen Nürnberger Trichters. Der Hype der Digitalisierung soll bereits in der Grundschule, wenn nicht schon in der KiTa, beginnen. Jeder Bildungspolitiker und „Bildungsexperte“, der etwas auf sich hält, inszeniert sich – zur Freude von Bertelsmann Stiftung, Vodafone-Stiftung, Telekom-Stiftung, Bitkom-Stiftung, Samsung und Co. – als leidenschaftlicher Befürworter eines Lernens in Laptop- oder Smartphone-Klassen.
Inszeniert wird das Ganze mit einer Melange aus Alarmismus, Klischees und Visionen, so als sei die Schule des Jahres 2017 immer noch die Schule des 19. Jahrhunderts oder gar der geologischen Epoche der „Kreidezeit“2. Dagegen setzt man didaktische Hyperlinks, elektronische Klassenzimmer, down-load und just-in-time-knowledge, instant-learning, Lernanimation, Online-learning usw. Und dann, bis hinauf in Abiturprüfungen: PPP-Powerpoint-Präsentation-Kompetenz! Damit aber wird die Haltung gefördert, Verpackung und Präsentation seien wichtiger als Inhalte. Lehrer erleben hier zunehmend, dass Schüler für ein Referat zwar einen gigantischen Aufwand in dessen Power-Point-Präsentation investieren, dass inhaltlich aber oft kein Satz logisch zum anderen steht und als Quellen ausschließlich mehr oder weniger seichte Wikipedia-Einträge herhalten müssen.
Beweise positiver Wirkung digitalen Lernens fehlen
An Beweisen für eine positive Wirkung digitalen Lernens fehlt es trotz intensivsten Bemühens der Digitaleuphoriker bis zum heutigen Tag. Um dennoch „Belege“ zu produzieren, nimmt man es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau: Die äußerst computerfreundliche Studie Bildung 2030 des „Aktionsrates Bildung“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) weist im Mai 2017 aus,
dass Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt werden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant niedrigere (sic!) Kompetenzen aufweisen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten.
Das Pikante daran ist: In einer vom VBW am 10. Mai 2017 verbreiteten Meldung war die Rede davon gewesen, dass „schon Grundschüler, die einmal pro Woche am Computer arbeiten, deutlich bessere (sic!) Kompetenzen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften“ hätten. Erst später folgte die Korrektur – klammheimlich. Die (Falsch-)Meldung aber war über dpa millionenfach multipliziert. Eingefangen hat sie niemand mehr. Ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt. Da war bei der verfälschten Fassung des Gutachtens wohl der Wunsch der Vater des Gedankens.
Unkritischer IT-Einsatz in Pädagogik provoziert Kollateralschäden
Ein unkritischer Einsatz neuer Informationstechniken in der Pädagogik provoziert Kollateralschäden, die umso gravierender ausfallen, je früher dieser Einsatz beginnt. Aber darüber redet man nicht. Der 2011 verstorbene Apple-Mitbegründer Steve Jobs und Microsoft-Gründer Bill Gates wussten allerdings sehr wohl, warum sie ihren Kindern i-Pads und Smartphones vorenthielten. Überhaupt sollte als pädagogischer Grundsatz gelten: Analog geht vor digital, produktiv geht vor rezeptiv. Außerdem sollte zur Kenntnis genommen werden, dass laut Untersuchung der Alfred-University in Albany (Kalifornien) internet-interaktive Studenten erheblich häufiger in Prüfungen scheitern als ihre Kollegen, die sich mehr auf das Studium als auf den PC konzentrieren. Über den Twitter-Stil, der auch in Schulen und Hochschulen herüberschwappt, und seine gerade mal 140 Zeichen, entsprechend rund 20 bis 25 Wörtern, sowie über die dabei praktizierte „kreative Freiheit“ von allen syntaktischen, orthographischen und grammatischen Regeln wollen wir uns hier gar nicht erst aufhalten3.
Bereits 1999 hatte sich mit Clifford Stoll ein Pionier des Internets kritisch zu Wort gemeldet. Sein 2001 erschienenes Buch LogOut ist schon im Untertitel Programm: Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben. Clifford Stoll schreibt4:
Das Internet verwandelt unsere Kinder in Leute, die glauben, dass mit dem Zugang zu Informationen automatisch ein Verstehen einhergeht … Es gibt damit nur ein Problem – alles ist Lüge.
Selbst John Hattie, seit 2008 „Papst“ der Unterrichtsforschung, hält fest, dass webbasiertes Lernen recht geringe Effektstärke aufweise. Es ist auch ein Irrglaube zu meinen, Unterricht würde mit Laptop oder Smartphones mehr Lernmotivation bringen. Nein, Unterricht verkäme damit noch mehr zum Edutainment. Smartphone und Laptop verführen vor allem dazu, dass sich die jungen Leute nur noch Info-Häppchen holen.
Es geht in der Schule um Vis-a-vis-Kommunikation
Es geht in der Schule um Vis-a-vis-Kommunikation, und es hat schon seinen Sinn, wenn ein Schüler – grimmig, staunend oder ungläubig – in das Gesicht eines Lehrers und nicht in einen Bildschirm schaut. Der Lehrer weiß darauf zu reagieren, der Computer nicht. Ein sogenanntes elektronisches Klassenzimmer aber wäre ein verarmtes, steriles Klassenzimmer ohne Er-Leben und ohne Reflexion. In ihm gingen Information und Unterhaltung eine pädagogisch fragwürdige Allianz ein. Es würde damit etwas gefördert, was Günther Anders lange vor der Digitalisierungswelle als das Dasein eines kollektiv vereinzelten Masseneremiten bezeichnet hatte. Dieser Masseneremit heißt so, weil er „solistisch“ vereinsamt. Weil er zum Beispiel als jugendlicher Fußgänger sogar beim Überqueren einer Straße so in sein Mäusekino vertieft ist, dass er von einer Straßenbahn überfahren wird. So geschehen in Augsburg, wo man jetzt begonnen hat, Bodenampeln einzubauen.
Und der neueste Hype? Bereits in der Grundschule sollen die Schüler mit der Tastatur schreiben anstatt mit dem Stift. Der sogenannte Pisa-Sieger Finnland exerziert es vor, indem er es seinen Grundschulen ab 2015 freigegeben hat, das Handschreiben oder das Tastaturschreiben zu lehren. Dem steht entgegen, dass das Handgeschriebene eindeutig Vorteile gegenüber dem Getippten hat. Pam Mueller und Daniel Oppenheimer von der Princton University in New Jersey haben festgestellt, dass Studenten, die mit einem Stift mitschreiben, ein solideres Wissen erwerben und dass eine Mitschrift mit Stift auf Papier zusammenhängendes Wissen fördert, während reines Tippen auf einer Tastatur dazu verführt, nicht zu filtern.
Feinmotorische Geschicklichkeit vs. Daumentraining
Mit dem Stift zu schreiben, ist eine Sache der feinmotorischen Geschicklichkeit. Diese wurde früher beim Basteln oder mit Gesellschaftsspielen trainiert: beim Mensch-ärgere-Dich-nicht, bei Mühle, Halma, Dame und Mikado. All dies findet heute – wenn überhaupt – am Bildschirm statt. Das Kritzeln, das Malen, das Kneten, Papier-Schneide- und Faltarbeiten – all dieses Be-Greifen ist im ursprünglichen Sinn des Wortes aus der Mode gekommen. Dabei wären gerade solche Spielereien die klugen Mütter und Tanten einer filigranen Handmotorik und damit des späteren Schreibens. Heute trainieren die jungen Leute eher – bis er glüht – nur den Daumen, nämlich beim Daddeln auf der Spielkonsole und beim SMS/WhatsApp-Schreiben.
Die Fähigkeit zum Umgang mit neuen Informationstechniken gehört heute gewiss zu den Kulturtechniken5. Dabei geht es um Medienmündigkeit. Aber es kommt auf die Dosis an, zumal in einer Zeit, in der Heranwachsende täglich gerade eben noch 15 Minuten mit Lesen verbringen. Hier zu erziehen, das ist der Job von Schule. Sie darf nicht auch noch vormachen, wie „cool“ und „easy“ Laptop und Smartphone im Gegensatz zum Buch seien. Gewiss gehört zur Medienerziehung die Schulung im Umgang mit dem Computer bzw. dem Internet. Dazu gehört eine Aufklärung über „Risk and Fun im Netz.“ Vor allem gehört dazu, dass die jungen Nutzer hinter die Bildschirmoberfläche schauen, zum Beispiel, wer die Nutznießer der Computerisierung sind: die IT-Branche und die Sammler von persönlichen Daten wie Google, Amazon, Facebook usw. Es gehören zu dieser Art von Mündigkeit die Fähigkeit, sinnentnehmend zu lesen; die Fähigkeit, differenziert und verständlich zu schreiben; die Fähigkeit, zielführend Strategien bei der Suche nach Informationen einzusetzen und beim Gefundenen Wichtiges von Unwichtigem sowie Sinnvolles von Schrott inklusive sexualisierter medialer Gewalt zu unterscheiden6.
12-jährige Mädchen posten in Lolitapose, geben Persönlichstes preis
Eben erst, im Mai 2017, hat die Suchtbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Marlene Mortler, eine Studie vorgestellt, in die 80 Kinderärzte ihre Erfahrungen mit dem Medienkonsum von 6.000 Kindern einbrachten. Eines der Ergebnisse lautet, dass jeder sechste Jugendliche sogar nach eigener Einschätzung Probleme hat, seinen digitalen Medienkonsum selbstbestimmt zu kontrollieren, und ein Teil von ihnen therapiebedürftig ist. Ein anderes Ergebnis lautet, dass 90 Prozent der Eltern keinerlei Bedarf sehen, ihre Kinder über die Risiken der Mediennutzung aufzuklären.
Schade, dass es heutzutage keinen Joseph Weizenbaum und keinen Günther Anders mehr gibt. Joseph Weizenbaum hatte gerade der Pädagogik ins Stammbuch geschrieben: EDV erleichtere das Durchwursteln, und sie verhindere wirkliche Innovationen. Weizenbaum nennt das „Stagnovation“. Es sei, so Weizenbaum weiter, informationstechnisch eine Fehleinschätzung, dass die Mattscheibe eine große Informationsdichte besitze. Jeder Waldspaziergang habe um Größenordnungen mehr Potential als künstliche Zeichensysteme. Aber den meisten sei die Fähigkeit verlorengegangen, sie zu erschließen, weil es einfacher sei, Technologie einzuschalten, als selbst zu denken. Und ein Günther Anders würde mit Blick auf die digitalen Medien eindringlich vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen.
Diese Ikonomanie macht heutzutage vor dem eigenen Bild und zumal vor jungen Leuten nicht halt. Man „postet“ sich. Beta- und Prolo-Promis machen es vor: Jede weggebügelte Hautfalte, jedes neue Tattoo und natürlich Tausende an Selfies landen bei Facebook, Instagram und in WhatsApp-Bildanhängen. Soziale Netzwerke nennt man sie. Was aber ist daran sozial, wenn es hier nur um Egophanie, um die Vergöttlichung des eigenen Egos, geht? Selbst zwölfjährige Mädchen tun es. Sie posten sich in Lolitapose und geben Persönlichstes preis. Wenn man, weil man als Schulleiter bei einer Internetrecherche zur eigenen Schule zufällig auf dergleichen stößt, ihre Mütter besorgt darauf anspricht, dass sich ihre Töchter damit zum Objekt von Pädosexuellen machen, erntet man durchaus die heftige Gegenrede: „Wie kommen Sie dazu, meiner Tochter nachzuschnüffeln!?“
„Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“
Noch einmal zu Günther Anders und seiner Essaysammlung Die Antiquiertheit des Menschen von 1956 bzw. 1980: Darin belegt er, dass die technische Intelligenz oft die Intelligenz ihrer Erzeuger übertrifft. Folge gerade beim Fernsehen (um wieviel mehr erst bei den digitalen Medien!): „Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“ Und wie ist es mit den digitalen Medien? Ebenso! Weil Computer keine Welt außerhalb der eigenen kennen, setzen sie gerade ihre besonders intensiven User einer höchstselektiven „Windowisierung“ von Wirklichkeit aus. Faktische und virtuelle Realitäten vermischen sich, zumal die Einstellung vorherrscht, Bilder könnten nicht lügen. Günther Anders weiter: „Wir sind der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen; wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen.“ Dabei hat der 1992 verstorbene Günther Anders noch nicht einmal die Möglichkeit gehabt, während einer Pause über einen „digitalisierten“ Schulhof zu gehen.
Solistisch ist die Kommunikation geworden, sagt Günther Anders. „Solipsistisch“ könnte man anfügen. Günther Anders meinte damit das Fernsehgerät, das im Gegensatz zum Familientisch, der eine zentripetale Wirkung habe, zentrifugal wirke. Um wieviel mehr könnte Anders das für iPads und iPhons geltend machen! Falls es denn überhaupt noch ein gemeinsames Essen in einer sogenannten Familie gibt, so ist es keine Ausnahme, wenn neben Messer, Löffel und Gabel griffbereit mehrere iPhons liegen.
Wer sich – wie der Autor dieser Anmerkungen – immer wieder kritisch über die um sich greifende Digitalisierungseuphorie der IT-Industrie, aber auch vieler Bildungspolitiker und Bildungsforscher äußert, wer sich immer wieder öffentlich von den hochrealistischen interaktiven Abknallspielen distanziert, bekommt seine Skepsis vielfach – von den Absendern sicher ungewollt – durch unterirdische Zuschriften bestätigt. Letzteres geschieht oft auf einem Sprachniveau, das alle Sorgen um Computerjunkies und um „Digitale Demenz“ rechtfertigt.
Eine sehr lesenswerte Auseinandersetzung mit dem Programm des Bundes zur Digitalisierung von Schule (PR-mäßig im Herbst mit 5 Mrd. Euro angekündigt, bis Herbst 2017 immer noch nicht im Haushalt ausgewiesen) findet sich unter Trojaner aus Berlin: Der„Digitalpakt#D“ .
Zum Autor
JOSEF KRAUS, geb. 1949, von 1995 bis 2015 Oberstudiendirektor am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg; von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL). Letzte Buchveröffentlichungen: „Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung.“ Reinbek 2013; „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen.“ München 2017.
(Gestaltung, Zwischenüberschriften, Fußnoten: Andreas Bubrowski)
- Artikel erschien in TUMULT – Vierteljahresschrift für Konsensstörung, erhältlich in Presseshops von Bahnhöfen und Flughäfen (Deutschland: 8,00 Euro, Österreich: 8,50 Euro, Schweiz: 10,00 SFR), Veröffentlichung in CJD-UPDATE mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. ↩
- Siehe: Whiteboards im Biologieunterricht – Ende der Kreidezeit ↩
- Siehe: Im Interesse des Kindswohls dem Zeitgeist hier und da widerstehen ↩
- Siehe: Clifford Stoll: LogOut – Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien ↩
- allgemein als Medienkompetenz umschrieben. ↩
- Hat dieser Absatz nicht schulübergreifend das Potenzial für ein sinnmachendes pädagogisches Konzept in Sachen digitaler Bildung? Einerseits wird der Antagonismus Digitaleuphorie/Digitalphobie überwunden. Andererseits bietet es pädagogische Ansätze, den Versuchen globaler Medienkonzernen, Schule für ihre Interessen zu instrumentalisieren, zu widerstehen. (BUB) ↩
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