Neue PISA-Studie mit Kleingedrucktem
PISA1 2008 entfacht erneut Diskussion, ob man die Hauptschule abschaffen und mit der Realschule zusammenlegen soll?
Noch vor wenigen Wochen ging ein Aufschrei des Entsetzens durch deutsche Medien. Eine Umfrage hatte ergeben, dass besonders in Ostdeutschland Schüler mehrheitlich die ehemalige DDR-Diktatur als friedliebendes Sozialparadies missdeuteten und bei der Gelegenheit den einen oder anderen politischen Sympathieträger des Westens – zum Beispiel Willy Brandt – zum SED-Mitglied machten.
Warten auf Reformen im Schulsystem. Doch wo und wie beginnen?2
Vor allem die Schulen wurden damals für dieses Ergebnis verantwortlich gemacht. Der Unterricht würde nicht angemessen die Jugendlichen informieren, aufklären, bilden. Die hohe Zahl der in der DDR ausgebildeten Lehrer vermittelt, so die Erklärung, den Schülern mehr oder weniger bewusst ein falsches Geschichtsbild. Doch nach der neuesten PISA-Studie ergibt sich plötzlich ein anderes Bild. Zumindest in Sachsen gelten Schulen jetzt als vorbildlich für ganz Deutschland. Das Bundesland landet noch vor Bayern auf Platz eins. Ein Widerspruch?
„Nur Leistung zählt, sonst gar nichts“ –
im Westen nicht zu vermitteln
Nimmt man beide Studien zusammen, ergibt sich verkürzt etwa dieses Bild:
In Sachsen haben die Schüler zwar keine Ahnung von Mauer, Schießbefehl und Diktatur, die einst ihre Heimat 40 Jahre lang prägten. Dafür können sie aber – für deutsche Verhältnisse – vorbildlich rechnen.
Anders als noch bei der Erhebung zum Geschichtsbild verweist der sächsische Kultusminister, Roland Wöller (CDU), jetzt stolz auf seine erfolgreiche Arbeit. Vor allem die Abschaffung der Hauptschule und ihre Verschmelzung mit der Realschule sei einer der Gründe für das gute Abschneiden. Sofort flammt die öffentliche Debatte wieder auf, Hauptschulen und Realschule bundesweit zusammenzulegen.
Was halten eigentlich die Schüler von PISA (s. Umfrage unten)?3
Den Sachsen sei der Sieg nach Zahlen gegönnt. Doch wer daraus folgert, das sächsische System in ganz Deutschland anwenden zu wollen, übersieht das „Kleingedruckte“ des dortigen Schulsystems, und damit das Kleingedruckte der letzten PISA-Studie. Die sächsische Bildungslandschaft unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von den gewachsenen Strukturen im Westen.
- „Nur Leistung zählt, sonst gar nichts“
Nach der Wende wurde in Anlehnung an die Elite-Gymnasien der ehemaligen DDR ein straff auf Leistung ausgerichtetes System mit 12-jährigem Abitur etabliert. Nur Leistung zählt, und sonst gar nichts, so das Credo. Man bilde dennoch keine Fachidioten aus, sagen Bildungspolitiker aus Dresden und verweisen auf diverse kulturelle Aktivitäten an den Schulen. Im Westen, also auch in Hessen, und auch im CJD, hat sich eine andere Sichtweise entwickelt: Nicht um LEISTUNG geht es vordergründig, die es um Kulturelles und Soziales zu ergänzen gilt. Erklärtes Bildungsziel ist vielmehr die Entwicklung von KOMPETENZEN. Fachwissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sollen im Unterricht mit den Soft Skills und dem kulturellen Engagement von Schülern zu einer Einheit verschmelzen. Das Motto der Sachsen könnte sich etwa in Hessen im Moment kein Schulträger leisten.
- Neues Zweiklassensystem
Wo viel Leistung verlangt wird, fällt allerdings auch mancher durch. Die Kehrseite der sächsischen Bildungsanstrengungen ist die vergleichsweise hohe Zahl von Förderschülern: Etwa acht Prozent der Schüler landen auf einer Schule für Lernbehinderte, im Bundesdurchschnitt sind es nur etwas über vier Prozent.4
Die Abschaffung der Hauptschule wird einerseits mit Chancengleichheit für sozial schwache Gruppen begründet. Zugleich wird durch die Hintertür ein neues Zwei-Klassen-System geschaffen, allerdings eines ohne Ausgang. Bisher war die Hauptschule eine Art Notausgang für Schüler, die mit den Leistungsanforderungen der Realschule nicht klar kommen. Eine „Schule für Lernbehinderte“ ist kein Notausgang mehr ins Berufsleben, eher ein bildungspolitisches Ghetto ohne Perspektiven.
- Regionale Unterschiede
Christian Pfeifer, Direktor am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, hat im Interview die Studie als unfair bezeichnet5. Das erfolgreiche Abschneiden von Flächenstaaten wie Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg, hätte nur bedingt mit der tatsächlichen Leistung an den Schulen zu tun. Der Hauptgrund ist vielmehr eine besonders günstige Bevölkerungsstruktur mit geringem Anteil von Migranten. Die regionale Zusammensetzung der Bevölkerung bleibt bei PISA jedoch unberücksichtigt.
Dass es in den genannten Ländern kaum Migranten gibt, hat unterschiedliche Ursachen: Während es in den großen südlichen Bundesländern eine starker Mittelschicht gibt, besitzt Sachsen grundsätzlich kaum Migranten. Makaber genug – zu diesem „positiven Ergebnis“ trägt auch die in der Bevölkerung verbreitete Ausländerfeindlichkeit bei. Rechtsradikale rühmen sich öffentlich, ganze Landstriche „ausländerfrei“ gemacht zu haben.
Vor allem Städte – wie Dortmund – oder Stadtstaaten – wie Bremen – kommen naturgemäß bei PISA schlecht weg. In Dortmund haben nur 24 Prozent der Eltern Abitur. In Bayern dagegen 52 Prozent. Dabei gibt es zwischen dem Bildungsgrad der Eltern und den Schulleistungen der Kinder einen direkten Zusammenhang. Wenn in Bremen laut Studie fast ein Drittel der Kinder nicht richtig lesen und rechnen können, liegt das nicht unbedingt am schlechten Schulsystem, sondern vor allem am hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund.
Eine differenzierte Betrachtung der PISA-Studie zeigt, dass die Ergebnisse nicht automatisch den Schluss zulassen, die Verschmelzung von Haupt- und Realschule wäre als Allheilmittel des deutschen Schulsystems geeignet. Andreas Bubrowski (Redaktion)
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