Interview mit Reinhard Giesa, Kriminalhauptkommissar, Pressesprecher der Polizeidirektion Schwalm-Eder

Drogenkrieg in Treysa? Leser der Lokalpresse mochten sich im Oktober verwundert die Augen reiben. Ein einschlägig vorbestrafter Krimineller hatte kurz nach Haftentlassung versucht, in einem ehemaligen Produktionsbetrieb in Treysa einen „Jugendclub“ zu gründen, in dem mutmaßlich Drogen verarbeitet und an Kinder und Jugendliche verkauft werden sollten.

xl_utensilien2Drogenutensilien, gefunden in der alten Molkerei in Treysa.
Foto: Polizei Homberg

Wenig später gab es einen Brandanschlag auf den Tatort. Und nur wenige Wochen zuvor flog in Homberg (Efze) eine Drogenplantage in einer ehemaligen Industrieanlage auf, unter anderem, wegen des hohen Stromverbrauchs der Wärmelampen zur Aufzucht von Hanfpflanzen. Sind die Kinder und Jugendlichen im Schwalm-Eder-Kreis etwa besonders drogengefährdet? Wie können Eltern, Lehrer und Erzieher der Drogengefahr für Kinder und Jugendliche vorbeugen?

CJD-UPDATE (1): 11-Jährige kaufen Drogen. Das ist offenbar nicht nur ein Stadtproblem, sondern passiert auch vor unserer idyllischen Haustür in Nordhessen. Das sind aber doch sicher seltene Einzelfälle und betreffen nur Kinder aus sozialen Randgruppen?

Reinhard Giesa: Um nicht zu spekulieren und mit Zahlenmaterial seriös zu bleiben, kann ich mich nur auf die Zahlen unserer Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) beziehen. Das sind die Fälle, die uns – hier bezogen auf den Schwalm-Eder-Kreis – im betreffenden Jahr bekannt geworden sind. Hier am Beispiel der PKS für das Jahr 2008:

Delikt: Rauschgiftdelikte nach dem Betäubungsmittelgesetz (BTMG)

Ermittelte Tatverdächtige in dieser Deliktsgruppe in 2008 = 319 Personen. Davon…

  • 18 aber noch nicht 21 Jahre alt (Heranwachsende) = 82 Personen
  • 14 aber noch nicht 18 Jahre alt (Jugendliche) = 38 Personen
  • noch nicht 14 Jahre alt (Kinder) = 2 Personen

Dass Kinder, d. h. noch nicht 14-Jährige als Drogenkonsumenten bekannt werden, ist wie oben zu sehen eher selten. Natürlich handelt es sich dabei um das so genannte Hellfeld, d. h. das, was der Polizei im Zuge von Ermittlungsverfahren bekannt geworden ist. Daneben gibt es das so genannte Dunkelfeld, folglich die Fälle/Straftaten, die nicht bei der Polizei bekannt geworden sind.

Ich kann an dieser Stelle eine diesbezügliche Antwort/Einschätzung einer Mitarbeiterin der Jugend- und Drogenberatungsstelle des Schwalm-Eder-Kreises zitieren, die lautet, dass die Mitarbeiterin nach ihrer Erfahrung davon ausgeht, dass ca. 50 bis 75 % aller Jugendlichen schon mal in irgendeiner Form mit (illegalen) Drogen in Kontakt gekommen sind, d. h. auch mal probiert haben.

Sich Kindern zuwenden © Andreas Bubrowski 2009Wenn Eltern ihren Kindern Zuwendung und Liebe geben, ist das die optimale Drogen-Prävention. Bild: Andreas Bubrowski

Zur Teilfrage „betrifft nur Kinder aus soz. Randgruppen“? Drogenkonsum ist sicherlich ein Schichten übergreifendes Phänomen. Eine Sucht ist meist Ergebnis einer Flucht. Einer Flucht aus widrigen Lebensumständen, fehlender Anerkennung, fehlender Zuwendung, fehlender (Lebens-)Perspektive, fehlender Liebe… Das alles kann auch jungen Menschen in vermeintlich „besser gestellten“ oder „gutsituierten“ Familien fehlen. Im Umkehrschluss wird hier schon deutlich, was einen jungen Menschen davor schützen und bewahren kann, sich in die Sucht zu flüchten.

Drogenkonsum ist in der Tat schon lange kein reines Stadtproblem. Ein Risikofaktor ist sicherlich die Verfügbarkeit von Drogen und die ist auch auf dem Land gegeben. Es ist zu beobachten, dass bei jugendlichen Cannabiskonsumenten oftmals nur geringes bis gar kein Unrechtsbewusstsein vorhanden ist. Selbst dann nicht, wenn junge Erwachsene unter Cannabiseinfluss ein Kraftfahrzeug führen.

CJD-UPDATE (2): Welche Anzeichen können dafür sprechen, dass ein Kind Drogen kauft und konsumiert? Worauf haben Eltern, Lehrer und Erzieher zu achten?

Reinhard Giesa: Mögliche Anzeichen für Drogenkonsum sind zum Beispiel

  • wenn ihr Kind sich Ihnen gegenüber total verschließt,
  • die Schulleistungen in nahezu allen Fächern drastisch absacken,
  • der Freundeskreis ständig wechselt oder sogar aufgegeben wird,
  • alle bisherigen Interessen ohne ersichtlichen Grund plötzlich bedeutungslos werden,
  • irgendwelche Gegenstände oder Geld fehlen, wofür Sie keine Erklärung haben,
  • völlig resignierend die Schule oder der Ausbildungsplatz abgebrochen wird,
  • ihr Kind anfängt, ohne jede Perspektive nur noch „rumzulungern.“

Es existieren auch Auflistungen von körperlichen Merkmalen, die auf Drogenkonsum hinweisen können. Doch diese Anzeichen können teils auch einfach nur durch zum Beispiel eine Erkältung oder eine sonstige „normale“ Krankheit bedingt sein. In diesem Zusammenhang werden genannt: Gerötete Augen, blasses Aussehen, Appetitlosigkeit, Schläfrigkeit, Reizhusten, außergewöhnliches Schwitzen, Händezittern… Wenn diese oder weitere körperlichen Merkmale mit den o. a. Beobachtungen zusammentreffen, verstärken sie durchaus den Verdacht auf einen möglichen Drogenkonsum.

Schulprojekt © A. Bubrowski/CJD-UPDATE, 2009Ansprechende Bildungs- und Projektangebote in der Schule machen Drogen auf natürliche Weise „uninteressant.“
Bild: A. Bubrowski/CJD-UPDATE

Hinweise auf einen möglichen Drogenkonsum sind weiter, wenn Eltern Drogen oder Utensilien, die man zum Konsum von bestimmten Drogen benötigt, vorfinden. Es sind dies z.B. Haschpfeifen, Wasserpfeifen (evtl. auch selbst gebaute), krümelige Substanzen evtl. in Silberpapier gewickelt, Pillen oder Pillendöschen, helles Pulver, verbogene Teelöffel mit schwarzen, rußigen Anhaftungen, Einwegspritzen, Feinwaagen.

CJD-UPDATE (3): Sind Mädchen und Jungen gleichermaßen gefährdet?

Reinhard Giesa: Ich zitiere hier aus Objektivitätsgründen wieder aus der PKS 2008:

  • Von den unter Frage 1 genannten 2 Kindern waren beides Jungen.
  • Von den unter Frage 1 genannten 38 Jugendlichen waren 3 Mädchen.
  • Von den unter Frage 1 genannten 82 Heranwachsenden waren 8 Mädchen.

Auch hier muss natürlich wieder auf das Dunkelfeld hingewiesen werden.

CJD-UPDATE (4): Gibt es bestimmte präventive Maßnahmen, die besorgte Eltern treffen können, damit ihre Kinder möglichst nicht in den Sog des Drogenkonsums geraten?

Reinhard Giesa: Zu dieser Frage lassen sich meine Ausführungen unter Frage 1 in Form des Umkehrschluss heranziehen:

Lassen Sie es Ihrem Kind nicht an Anerkennung, Achtung, Zuwendung, (Lebens-)Perspektive, Liebe fehlen.

Hilfreich ist auch ein strukturierter Tagesablauf, Lebens-Ziele, seien es berufliche oder im Hobbybereich – Sport, Musik, Kunst… Ein junger Mensch, dem Liebe widerfährt, der Ziele hat, der gefördert wird, wird nicht aus seiner Lebenssituation „flüchten“ wollen. Wenn ein solches Kind auch mal an einem Joint zieht oder gar mal einen raucht, wird es nicht gleich der Sucht verfallen. Es wird schnell merken, dass ihm das keine echte Lebensperspektive bietet. Auch wird es sich nicht mit der Lebenseinstellung von Lebensflüchtlingen identifizieren können.

Freizeit nach der Schule © A. Bubrowski/CJD-UPDATE, 2009Attraktive Freizeitangebote machen Kinder und Jugendliche immun gegen Drogen. Bild: Andreas Bubrowski/CJD-UPDATE

Vorbeugung oder was Kinder brauchen

  1. Schaffung von günstigen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten
  2. Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, Konfliktfähigkeit
  3. Seelische Sicherheit – Gewissheit der Liebe und Zuwendung durch Eltern und nahe Verwandte
  4. Anerkennung und Bestätigung
  5. Grunderfahrung, dass die Eltern viel von dem Kind halten, ihm etwas zutrauen, es ohne Vorbehalte anerkennen.
  6. Bewegung und richtige Ernährung – körperliches Wohlgefühl und seelische Zufriedenheit gehören zusammen
  7. Lebensziele
  8. Realistische Vorbilder
  9. Kinder brauchen unsere Zuwendung am meisten, wenn sie sie am wenigsten verdient haben.
  10. Auch Coole brauchen Zärtlichkeit

Mögliche Ursachen für Drogenkonsum: Drogengefährdung und –abhängigkeit entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Ein komplexes Geflecht von Ursachen geht einer „Drogenkarriere“ voraus:

  • süchtig machende Strukturen
  • Persönlichkeit
  • soziales Umfeld
  • Anziehungskraft und Verfügbarkeit von Drogen

Beispiele:

  • mangelnde Konfliktfähigkeit, schlechtes Ertragen von Enttäuschungen
  • geringes Selbstwertgefühl
  • Versagensängste
  • Langeweile, Einsamkeit
  • Schwierigkeiten in Familie, Schule, Beruf
  • Trennung von geliebten Menschen
  • wenig emotionale Zuwendung
  • übersteigerte Leistungserwartungen
  • schlechte Zukunftsperspektiven
  • Verfügbarkeit von Drogen allgemein
  • Drogen können durchaus vorübergehend angenehme Empfindungen erzeugen und schlechte Gefühle vorübergehend ausblenden oder sie erträglicher erscheinen lassen.

Aus „Der Spiegel,“ Heft 27/2004 „Ein Joint für die große Pause“:

Selbstbewusste Jugendliche, die keine Angst vor dem Leben haben, werden selten drogenabhängig. Wer aus reiner Partylust und Experimentierfreude kifft, verliert meist schnell den Spaß daran und wendet sich wieder seinen Interessen und Zielen zu. Es trifft vor allem die unsicheren oder empfindsamen Kinder, die einsamen oder die unter Druck gesetzten. Die Droge bietet ihnen die Chance, ihre Schwächen zu tarnen und dazugehören zu können – um jeden Preis. Die Flucht in den Rausch ist Ersatz für die Hilfe, die sie in oft „emotional verarmten“ Familien nicht finden.

Fremde Hilfe von außen:

Wenn Sie sich sicher sind, dass das Drogenverhalten Ihres Kindes in eine Sucht abzugleiten droht oder im schlimmeren Fall schon abgeglitten ist, brauchen Sie unbedingt professionelle Hilfe. Je eher etwas passiert desto besser. Haben Sie keine Hemmungen. Drogenkonsum ist ein gesellschaftliches Problem, das in allen Schichten vertreten ist. Nehmen Sie Kontakt auf mit der Beratungsstelle in Ihrer Nähe (siehe Punkt 7).

Kunst und Musik sind Drogen-Prävention © A. Bubrowski/CJD-UPDATE, 2009Kunst und Musik stellen eine effektive Drogen-Prävention dar.
Bild: A. Bubrowski/CJD-UPDATE

CJD-UPDATE (5): Im Fall der alten Molkerei in Treysa ist der mutmaßliche Täter ein einschlägig Vorbestrafter mittleren Alters. Wie kann eine solche Person innerhalb weniger Monate auf Kinder und Jugendliche eine anziehende Wirkung entfalten?

Reinhard Giesa: Offenbar bot der Mann in der alten Molkerei ein für Jugendliche ansprechendes, interessantes, aufregendes (weil es auch um Verbotenes ging) Umfeld. In Ihrem ganz normalen Ablösungsprozess vom Elternhaus suchen Jugendliche das Andere, wollen ihr Ding machen. Dabei bilden Orte, an denen man sich im (für Erziehungsinstanzen) Verborgenen ausleben kann, eine hohe Anziehungskraft. Hier wird deutlich, wie begründet und wichtig der Appell an Eltern ist, sich dafür zu interessieren und auch zu schauen, wo und mit wem ihre Kinder umgehen.

CJD-UPDATE (6): Nehmen wir an, eine Mutter findet mit Entsetzen in den Sachen ihres Sohnes Drogen. Sie weiß nicht, was tun, und ruft Sie an, um Ihren Rat einzuholen. Was passiert nach dem Telefonat? Müssen Sie als Strafverfolgungsbehörde jetzt gegen Sohn und Mutter ermitteln?

Reinhard Giesa: Jeder Polizeibeamte unterliegt dem Legalitätsprinzip aus dem § 163 der Strafprozessordnung. Daraus folgt, dass, wenn ihm dienstlich eine Straftat bekannt wird, er ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, d. h. eine Strafanzeige zu erstatten hat. Das sollte Eltern in ihrer Verantwortung dem Kind gegenüber aber nicht dazu bringen, nichts zu tun. Sie können sich auch an andere Hilfe leistende Stellen wenden – siehe z.B. nächster Punkt (7.).

Nichts zu tun, darüber hinwegzusehen, wäre das Falscheste. Und selbst wenn, wie auch immer, die Polizei ins Spiel kommt oder auf einmal vor der Tür steht (wegen Drogen), dann bedeutet das für das Kind nicht das sofortige, jähe Ende jeder Karriere. Im Betäubungsmittelrecht gilt der Grundsatz „Therapie vor Strafe“. Zudem gelten für Minderjährige die besonderen Bestimmungen des Jugendgerichtsgesetzes, wo wiederum der Grundsatz „Erziehung vor Strafe“ gilt. Jugendlichen soll – auch durch die Ermittlungsbehörden – in erster Linie geholfen werden.
Dabei kann ein Termin vor der Polizei, dem Jugendstaatsanwalt oder einem Jugendrichter sehr lehrreich und für die Zukunft überzeugend sein.

Folgende Strategie im Falle eines Verdachts, dass das Kind Drogen nimmt, kann Eltern angeraten werden:

  1. Verfallen Sie nicht in Panik.
  2. Versuchen Sie mit dem Kind ins Gespräch zu kommen und machen Sie das Thema Drogen zum Gesprächsthema.
  3. Schildern Sie nicht gleich vorwurfsvoll und „schulmeisterlich“ die Gefahren, sondern versuchen Sie herauszufinden, welche Motive hinter dem Drogenkonsum stecken.
  4. Versuchen Sie herauszubekommen, welche Substanzen Ihr Kind nimmt, wie oft und seit wann.

CJD-UPDATE (7): In Deutschland gibt es ein Beichtgeheimnis. Wenn also ein Kind oder Jugendlicher seinen Pfarrer bittet, ihm bei Drogenproblemen beizustehen, ist sichergestellt, dass weder Daten erfasst werden noch eine Anzeige bei der Polizei eingeht. Gibt es im Landkreis weitere seriöse Beratungsangebote, wo sich Kinder, Jugendliche oder Eltern erstmal vertrauensvoll hinwenden können?

Reinhard Giesa: Es gibt die Jugend- und Drogenberatungsstelle beim Landkreis.

Telefon: (0 56 81) 7 75 – 6 00

  • Beratung
  • Begleitung von Sucht und Substitution
  • Ambulante Therapie
  • Hilfe bei der Entgiftung
  • Vermittlung in stationäre Therapie
  • Nachsorge

Das Ganze ist kostenlos und vertraulich.

CJD-UPDATE (8): Noch eine Frage zur Schule: Hier herrscht Rauchverbot. Die Gefahr, dass dort „Verbotenes“ geraucht wird, ist daher eher gering. Was ist mit anderen Drogen? Was können Lehrer tun, vor allem Klassenlehrer, um ihre Schüler gegen die Versuchung Droge zu immunisieren?

  • Vorbild sein,
  • Aufklären – Thema in den Unterricht aufnehmen – dabei zum Beispiel auch Instanzen von außen hinzuziehen – Polizei, Drogenberatung, Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter, Mediziner…
  • auch als Lehrer, wie die Eltern, auf Hinweise für Drogenkonsum achten (siehe Pkt. 2) und bei Verdacht reagieren: Ansprechen, Eltern informieren.

Sonstiges:

Für Eltern, Erzieher, pp., stellt die Polizei zum Thema Drogen die Broschüre – Sehn-Sucht – So schützen Sie Ihr Kind vor Drogen – kostenfrei in beliebiger Stückzahl zur Verfügung. Weitere Tipps und Hinweise erhalten sie zum Beispiel unter www.polizei-beratung.de .

Interview/Gestaltung: Andreas Bubrowski