Irgendwie – alles weg: Lernprobleme effektiv lösen? Dann raus aus aus dem Kurzzeitgedächtnis!
Drei einfache Regeln zum Lernerfolg. Serie: Lernen lernen
Es ist zum Verzweifeln! Am liebsten würde sich Hildegard1 von der achten zurück in die sechste Klasse „beamen“ lassen, wenn es möglich wäre, nur um noch einmal richtig Bruchrechnung zu lernen. Denn obwohl es in Mathematik gut läuft, stolpert sie ständig über lästige Defizite beim Addieren oder Dividieren von Brüchen. Dabei hatte sie Bruchrechnung in der sechsten Klasse doch gut verstanden. Aber irgendwie – alles weg.
Hildegard muss bei Brüchen notgedrungen noch einmal fast von vorn anfangen. Wie viele andere Schüler lebt Hildegard vor allem im Kurzzeitgedächtnis. Das war so in der sechsten Klasse und auch davor und danach. Ihre Defizite wären zu vermeiden gewesen, hätte sie beizeiten auf Langzeitgedächtnis „umgeschaltet“.
Das Kurzzeitgedächtnis speichert nur für kurze Zeit
Das Kurzzeitgedächtnis muss man sich vereinfacht wie den Cache eines Internet-Browsers vorstellen. Alle besuchten Webseiten werden im Cache verzeichnet, alle geladenen Bilder und Videos gespeichert. Etwa Firefox, einer der gängigsten Web-Browser. Der Cache ist hier standardmäßig auf 350 Megabyte angelegt. Ist das Fassungsvermögen des Cache-Speichers erschöpft, wird „hinten“ so viel rausgeworfen wie „vorn“ während des Surfens im Web Speicherplatz benötigt wird.
Anders als ein Browser-Cache ist das Fassungsvermögen des Kurzzeitgedächtnisses nahezu unbegrenzt, denn Informationen werden nicht als konkrete physikalische Datensätze, sondern über Verknüpfungen von Nervenzellen gespeichert. Neue „Daten“ belegen keinen Speicherplatz, es kommt zu zusätzlicher „Verdrahtung“ von Nervenzellen. Doch auch dem Fassungsvermögen des Kurzzeitgedächtnisses sind enge Grenzen gesetzt. Das Kurzzeitgedächtnis speichert nur für kurze Zeit. Ob Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses vor dem Schicksal bewahrt werden, „hinten“ wieder rausgeworfen zu werden, bevor sie an das Langzeitgedächtnis „weitergereicht“ wurden, hängt von ZWEI Dingen ab:
- der Intensität des emotional-mentalen Eindrucks, den die aufgenommene Information hinterlassen hat und – das ist das Entscheidende
- was NACH dem Speichern vom „Gehirn-Browser“ „vorn“ an neuen Informationen und Eindrücken eindringt.
Faszination
[youtuber id=“bAnMFhFMWAY“]Ein Gehirn, das solchen oder ähnlich starken Eindrücken ausgesetzt ist, interpretiert weniger impressive Informationen als nebensächlich und zweitrangig, etwa auch zuvor im Unterricht erarbeite Inhalte.
Beschränkt sich LERNEN auf kurzfristiges Vorlegen von Hausaufgaben und Erreichen einer Note, müssen die dabei erzielten Informationsverknüpfungen bald der nachrückenden Flut an mentalen und emotionalen Eindrücken weichen. Damit wird erklärbar, warum etwa selbst gute Schüler der sechsten Klasse in der achten Klasse plötzlich keinen Schimmer mehr von Bruchrechnung haben oder warum im zweiten Halbjahr viele Schüler scheinbar etwas verlernt haben, zudem sie im ersten Halbjahr noch gute Zensuren geschrieben haben.
Auf das DANACH kommt es an
Ob eine Information dauerhaft im Langzeitgedächtnis eingelagert wird und von da an lebenslang automatisch zum Abruf bereit steht, hängt entscheidend davon ab, was mit ihr passiert, nachdem sie vom Kurzzeitgedächtnis „aufgesaugt“ wurde. Dabei muss man beachten, dass Kurzzeitgedächtnis UND Internet-Browser wie Staubsaugerrohre arbeiten. ALLES, was ihnen vor das Rohr kommt, wird unterschiedslos aufgesaugt und die „dicksten Brocken“ hinterlassen die stärksten Eindrücke. Mit dem Wissen um diese Abläufe lassen sich nun Lerndefizite effektiv meistern. Denn was ist ein Lerndefizit? Doch nichts anderes als die Tatsache, dass eine Information im Kurzzeitgedächtnis aus irgendwelchen Gründen NICHT im Langzeitgedächtnis landen konnte und in der Folge „spurlos“ wieder verschwunden ist. Der Transfer von Informationen ins Langzeitgedächtnis kann mit drei einfachen Regeln in Gang gesetzt und gefördert werden.
- Positive Emotionen
Freude haben im Unterricht und beim Lernen ist wie Motoröl im Motor. Doch Vokabeln pauken oder sich mit mathematischen Sachaufgaben abkämpfen macht je nach individueller Veranlagung nun mal eher keinen Spaß. Hier sind alle am Lernprozess Beteiligten – Schüler, Lehrer, Eltern – gefragt, TROTZDEM und GERADE DESHALB eine positive Atmosphäre zu erzeugen. In Klassen, wo es zwischendurch einmal lustig zugeht, fällt Lernen leichter, vorausgesetzt, die Schüler schaffen es, sogleich wieder eine konzentrierte Arbeitshaltung einzunehmen, was man aber trainieren kann.
- Neue Eindrücke fern halten
Frisch sprießender Rasensamen ergibt noch keine belastbare Spielwiese. Damit das Gehirn neue Informationen ungestört so verknüpfen kann, dass sie belastbar ins Langzeitgedächtnis übergehen können, muss es vor allem vor starken neuen Eindrücken bewahrt werden. Das Gehirn eines Schülers, das sich nach der Schule intensiven mentalen und emotionalen Ablenkungen gegenübersieht (etwa beim Computerspielen), kommt zu dem (logischen) Schluss: DAS ist wichtig, das ist das WICHTIGSTE. Alles andere ist damit automatisch unwichtig, zweitrangig, nicht der Rede (des Speicherns) wert. Die am Vormittag im Unterricht begonnene subtile Speicherung von Informationen geht verloren.
- Wiederholung: Übung macht den Meister
Damit aufgegangener Rasensamen bald zur satten Wiese wird, greift der Gärtner zum Dünger. Der mentale Dünger beim Lernen ist die wiederholte kurze und konzentrierte Beschäftigung mit den zu lernenden Informationen. Lern-Gewaltritte vor Klausuren sind kaum mehr als ein kurzfristiges Mental-Doping. Nur wiederholtes Üben vermag Lernende zu Meistern ihres Faches zu machen. Je schwerer sich jemand mit einem Fach tut, um so mehr hilft es ihm, wenn er sich am Nachmittag des Unterrichtstages mit dem vormittags behandelten Stoff auseinandersetzt. Das muss nicht unbedingt auch heißen, gleich die Hausaufgaben zu erledigen. Wichtig ist die kurze (15 Minuten plus) mentale Auseinandersetzung mit dem Stoff: Mitschriften lesen2, den Unterrichtsverlauf im Geiste nachvollziehen, mögliche Unklarheiten aufspüren… Hausaufgaben sind nachfolgend als Gradmesser „Kann ich oder kann ich nicht“ zu benutzen.
Mit dem Wissen, wie unser Gehirn funktioniert, lassen sich Lerndefizite wirksam meistern. Die Erfahrung zeigt, dass bei Schülern vermeintliche „Psychotricks“ gut ankommen. Um so mehr, wenn ihnen die Abläufe auf einem verständlichen Niveau wissenschaftlich erklärt werden und Erfolg unmittelbar erlebbar wird. Vor allem in den Jahrgangsstufen fünf und sechs bietet es sich an, Schüler auf praktische Weise für das Zusammenspiel von Kurz- und Langzeitgedächtnis zu sensibilisieren, dass es ihnen in der achten Klasse nicht wie Hildegard geht und sie ständig über Brüche stolpern (müssen).
Linksunten: Werner Stangl: Lernen und Gedächtnis
(*) Text/Bild: Andreas Bubrowski
- Name geändert. ↩
- Vorausgesetzt man hat dem Schüler nicht seine EIGENEN Mitschriften weggenommen und durch elektronische Medien ersetzt, in dem Irrglauben nun zeitgemäß pädagogisch zu sein. Der Prozess der manuellen Erzeugung einer benutzbaren Mitschrift prägt die Persönlichkeit und umgekehrt. Das kommt dem Gestalten eines Bildhauers gleich. Das Werk ist sichtbarer Ausdruck eigener Fähigkeiten und Endprodukt erfolgreichen Schaffens. Das gilt vor allem in der persönlichkeitsbildenden Phase bis 14 Jahre. Ein Bildhauer, der statt mit seinen Händen Material zu bearbeiten, an einem berührungssensitiven Bildschirm wischend „gestaltet“ ist keiner mehr. ↩
Kommentare
Klasse Thema und vor allem sehr ansprechend dargestellt!
Das Problem, was wahrscheinlich viele haben werden, ist, dass sie mit sich selbst überfordert sind. Ich glaube, es ist ziemlich schwierig, in einen festen Lernrythmus hineinzukommen. Hinzu kommt: Einmal falsch angefangen, beispielsweise beim Punkt positive Emotionen, und schon fällt von ganz alleine die Wiederholung hinten runter, ganz zu schweigen davon, dass neue Eindrücke dann gerne zum Zeitvertreib herangezogen werden.
Nicht jedes Fach kann ein Lieblingsfach sein, vielleicht wegen dem Lehrer, vielleicht einfach wegen dem Fach selbst. Um damit trotzdem gut umgehen zu können, ist meiner Erfahrung nach schon ziemlich viel Selbstdiszipling erforderlich. Für jüngere Schüler leider genauso schwierig wie für viele ältere. Aber Schule bedeutet Lernen für’s Leben.
Gerade wenn einen das Gefühl des Überfordertseins überkommt, ist es hilfreich, sich an einem praktischen Regelwerk orientieren zu können. Das kann dann eine Art Navi im Nebel sein. Es kommt dabei nicht drauf an, das Gefühl des Überfordertsein zu “bekämpfen” oder zu “überwinden”, sondern mit der Überforderung sachlich umzugehen. Was faktisch das Ende der Überforderung ist. So wie man eben mit dem Nebel seinen Frieden machen muss, wenn er denn da ist und sich – etwa durch vorsichtiges Tasten in der Umgebung – trotzdem weiter bewegt.
Wenn das WIEDERHOLEN zu kurz kommt, ist es um so mehr sinnvoll, sich dessen Notwendigkeit zu erinnern und – auch wenn es anstrengen mag – zu versuchen dorthin zurück zu finden.
Und wenn man einmal wirklich verstanden hat, wie fatal es im Lernprozess ist, wenn zwischendurch zu viele andere starke Eindrücke einströmen können, dann wird sich mit der Zeit unterschwellig eine Haltung der Achtsamkeit einstellen, die einem nach einer Stunde Bildschirm-Konsum sagt: gut jetzt…
Alles zusammen schient mir daher vor allem eine Frage des WISSENS zu sein. Wissen ist wirklich Macht, vor allem und zunächst über einen selbst. In dem Sinne ist WISSEN dann auch Freiheit. BUB