Motivations-Kultur
Ein Schüler aus einer fünften Klasse, drei Wochen vor den Zeugnissen im Mathematikunterricht, vorletzte Stunde. Gerade geht es um das für diese Altersgruppe kognitiv noch schwer greifbare Berechnen der Oberfläche von Quadern. Lehrer: Wir werden die Berechnungen in unserer letzten Stunde nächste Woche weiter trainieren. Junge (betroffen): Und ich muss an dem Tag zu einer Hochzeit (bekümmerte Mine, Kopfschütteln).
Motivierte Schüler einer fünften Klasse im Mathematikunterricht (Symbolbild). Bild: BUB
Der Mathematiklehrer reibt sich (metaphorisch) vor Verwunderung die Augen, angesichts dieser beiläufigen, subtilen Reaktion seines Schülers. Was für eine verinnerlichte Leistungsmotivation. Angesichts des Familienfestes überwiegt nicht etwa die Freude über die Schulbefreiung, sondern die Frustration darüber, etwas in Mathematik zu verpassen. Dabei ist der Junge kein „Mathegenie“, sondern ein ganz normaler Schüler. Motivationspsychologen würden sich bestätigt fühlen.
Es gilt nichts Geringeres zu schaffen,
als das Blühen zu bewahren
Unserem Schulsystem wird immer wieder vorgeworfen, es würde ihm an Leistungsmotivation mangeln, das auf Selbstwertgefühl und Frustrationstoleranz basiert. Es geht dabei um eine möglichst stabile Grundhaltung, wie Leistungsanforderungen im Leben und speziell in der Schule zu bewältigen sind. Die Meinungen, wie man Heranwachsende zur Herausbildung einer solchen Haltung am besten motivieren kann, gehen weit auseinander.
Der Mathematiklehrer unseres Fünftklässlers könnte sich jetzt insgeheim auf die Schulter klopfen und sich sagen: gute Arbeit! Dann wäre er einmal mehr der typischen Berufskrankheit von Lehrern anheim gefallen, alles zu sehr persönlich zu nehmen. Tatsächlich gleichen Lehrer eher Gärtnern, die ein Blumenbeet zu pflegen haben. Der Gärtner kann immer schön gießen, Unkraut jäten, für Belüftung sorgen und mit gesunden Nährstoffen düngen. Aber ob und wann eine Blume in seinem Beet mit Blühen beginnt, liegt NICHT in seiner Hand. Wenn dann aber ein Pflänzchen, vielleicht sogar unerwartet früh, beginnt schöne Blüten zu entfaalten, wäre der Gärtner ein rechter Stümper, würde er das Blühen als seinen persönlichen Verdienst betrachten und sich selbstzufrieden zurücklehnen. Denn das Blümchen wäre sehr wahrscheinlich auch ohne ihn zum Blühen gekommen. Vielleicht etwas später.
Denn eigentlich zeigt sich erst jetzt, ob der Gärtner – oder der Lehrer – seiner Aufgabe entsprechen kann. Es gilt nichts Geringeres zu schaffen, als das Blühen zu bewahren. Und ab hier hinkt allerdings die Blütenmetapher. Denn eine blühende Blume verblüht absehbar nach kurzer Zeit. Die „Motivationsblüte“ unseres Schülers hingegen gilt es dagegen soweit zu stärken, dass sie ein ganzes Leben lang allen Widerständen tapfer zu trotzen vermag. Was für eine Herkulesaufgabe. Und was nur, wenn es einem nicht gelingt? Was für eine schwer wiegende Verantwortung. Möglicher Weise sollten sich Motivationspsychologen mehr um Lehrer kümmern, als um Schüler. ANDREAS BUBROWSKI
Kommentare